Im größten Teilchenbeschleuniger der Welt sollen bald erneut Protonen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit kollidieren. Dabei herrschen im LHC extreme Bedingungen wie kurz nach dem Urknall. Seine Aufgabe: die Schwächen der Teilchenphysik finden und beheben.
Von Ralf Nestler
Was mich begeistert: Jeder baut seine Detektorkomponenten, kommt zehn, zwanzig Jahre später zurück, um alles am CERN zusammenzusetzen. Und es funktioniert! (Joachim Mnich, CERN-Forschungsdirektor)
Die größte Forschungsmaschine der Welt liegt unter der Erde. Der Large Hadron Collider, kurz LHC, befindet sich in etwa 100 Meter Tiefe am Kernforschungszentrum CERN bei Genf. In dem 27 Kilometer langen Ring kollidieren Protonen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit. Dabei entstehen neue Elementarteilchen, die Forscherinnen und Forscher genau vermessen. Mit Hilfe der Daten lässt sich überprüfen, welche physikalischen Theorien korrekt sind und welche nachzubessern sind. Denn allen Beteiligten ist klar: Das Standardmodell der Teilchenphysik hat Schwächen. Offen ist, wo genau. Und ob der LHC tatsächlich helfen kann, sie zu beheben.
Wie der Teilchenbeschleuniger aufgebaut ist, was das Gerät leistet und welche Erkenntnisse Physikerinnen und Physiker damit gewinnen wollen, können Sie mit den folgenden Bildern, Grafiken und Videos erleben.
Ein paar hochintelligente Leute haben Ideen, die völlig verrückt klingen, und diskutieren heftig. Aber jeder weiß, dass er oder sie diese Forschung nicht allein machen kann. (Joachim Mnich, CERN-Forschungsdirektor)
Das Europäische Kernforschungszentrum CERN wurde im Jahr 1954 gegründet und wird aktuell von 23 Mitgliedsstaaten getragen, darunter Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien. Das Jahresbudget liegt bei rund einer Milliarde Euro.
Mit gut 3000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist es das größte Forschungszentrum für Teilchenphysik auf der Welt und hat noch einen weiteren Superlativ zu bieten: Was die Energie und Anzahl der Teilchenkollisionen betrifft, ist der LHC der stärkste Protonen-Beschleunigerring weltweit.
Genau genommen ist der Ring übrigens nicht 27 Kilometer, sondern 26 659 Meter lang. Um präsize zu bleiben, ebenfalls zu erwähnen: Er bildet keinen perfekten Kreis. Stattdessen wechseln sich Kreisbögen mit geraden Abschnitten ab. Der Tunnel wurde bereits in den 1980er Jahren für den LHC-Vorgänger gebaut, den LEP (Large Electron-Positron Collider). Es war schlicht einfacher und billiger, die vorhandene Struktur zu nutzen, als an der Oberfläche alle nötigen Grundstücke zu erwerben und neu zu bauen.
Schon 2013 hat man den LHC für den Betrieb bei höheren Energien optimiert. Für den Restart 2022 legten die Teams noch was drauf.
Streng genommen ist der LHC weniger ein Teilchenbeschleuniger als ein Teilchencrasher. Zwar werden Partikel wie positiv geladene Protonen beschleunigt – in dünnen Strahlen erreichen die Teilchenpakete fast Lichtgeschwindigkeit. Entscheidend ist aber, die Strahlen so aufeinander zu hetzen, dass möglichst viele Teilchen kollidieren und miteinander wechselwirken. Es bilden sich kurzzeitig weitere Teilchen, die sich mit Hilfe hausgroßer Detektoren untersuchen lassen. Im Inneren des CMS-Experiments befinden sich beispielsweise Spurdetektoren aus Silizium, mit denen man die Bahn geladener Teilchen genau bestimmen kann. In den Kalorimetern wiederum wird ihre Energie analysiert.
Weil während der Crashs vermutlich Bedingungen wie kurz nach dem Urknall herrschen, können Forscherinnen und Forscher mehr über die Frühphase des Universums erfahren und ihre Theorien zum Aufbau der Materie überprüfen.
Der bisher größte Erfolg der Teams am LHC? Die Entdeckung des Higgs-Teilchens.
Zum einen wollte man ein bestimmtes Teilchen entdecken, das Higgs. Vorhergesagt hatten dessen Existenz die Forscher Peter Higgs und François Englert bereits 1964. Im Jahr 2012 dann wies man es am CERN nach, 2013 gab es dafür den Nobelpreis in Physik. Das Higgs-Boson gilt als letzter Baustein des Standardmodells der Teilchenphysik.
Das Modell beschreibt, wie Materie aufgebaut ist – vom Elektron und Proton über Quarks bis hin zum Higgs-Boson – und wie die einzelnen Teilchen wechselwirken. Physikerinnen und Physiker haben es jahrzehntelang immer weiter entwickelt und es ist ziemlich robust. Doch es gibt Schwächen.
Beispielsweise werden Neutrinos darin als masselos behandelt, obwohl die Teilchen nachweislich eine Masse haben. Es muss also etwas Besseres geben.
Indem die Forscherinnen und Forscher weitere Schwachstellen aufspüren, hoffen sie, das Standardmodell weiterentwickeln zu können.
Wenn der LHC nach gut dreijähriger Wartungspause ab Sommer 2022 wieder läuft, stehen vor allem diese drei Themen auf der Agenda:
sollen die Eigenschaften des Higgs-Bosons genauer bestimmt werden, um zu überprüfen, wie exakt bestehende theoretische Vorhersagen sind. Je nach Ergebnis will man sie anschließend anpassen.
werden Messungen mit dem LHCb-Detektor gespannt erwartet. Gemäß Theorie sollten Beauty-Quarks zu gleichen Teilen zu Elektronen und Myonen zerfallen. Der Detektor hat aber zuletzt eine Abweichung festgestellt, womöglich ist hier eine der gesuchten Schwachstellen des Standardmodells. Noch fehlen weitere Daten, um diesen Befund zu bestätigen oder zu widerlegen. Das wird nun hoffentlich gelingen.
hoffen die Fachleute auf Daten des Entschleunigers ELENA (Extra Low Energy Antiproton ring). Darin werden die Antiprotonen aus der Beschleunigeranlage verlangsamt, um sie besser einfangen und beobachten zu können. Die Forscherinnen und Forscher wollen mehr über Antimaterie herausfinden und etwa die Frage beantworten, ob sie nach unten fällt wie normale Materie oder nach oben. Weil die Gravitation auf der Skala von Elementarteilchen eine sehr schwache Kraft ist, ist sie schwierig nachzuweisen. Letztlich gilt es zu klären, warum nach dem Urknall ein kleines bisschen mehr Materie vorhanden war als Antimaterie – und die Menschheit heute in diesem Universum sitzt und sich solche Fragen stellen kann.
Alle Magnete des LHC sind Elektromagnete, bei denen das Magnetfeld durch den Fluss von elektrischem Strom erzeugt wird.
Bevor man experimentieren kann, bringen mehrere Beschleuniger wahlweise Wasserstoffkerne – also besagte Protonen – oder Bleikerne zunächst annähernd auf Lichtgeschwindigkeit. Normalerweise würden die Elementarteilchen schnurgerade durch die Röhren jagen. Um sie auf eine Kreisbahn zu zwingen, nutzen die Forschenden starke Magnete, die sie bis auf minus 271,3 Grad Celsius (1,9 Kelvin) mit flüssigem Helium herunterkühlen. Weil die Teilchen mit jeder Biegung Energie verlieren und es daher gilt, enge Kurven zu vermeiden, ist der Umfang des Kreises sehr groß gewählt. Er misst 27 Kilometer.
Es gibt zwei Röhren für die Partikel: In der einen flitzen sie im Uhrzeigersinn, in der anderen entgegengesetzt. In den Röhren herrscht ein sehr gutes Vakuum, um zufällige Zusammenstöße mit Luftmolekülen zu vermeiden. Sie sind so leer wie der interplanetare Raum. Der Druck beträgt 10⁻¹³ Bar.
Die mehr als 1000 Magnete sorgen dafür, dass die Teilchenstrahlen auf wenige Mikrometer Breite zusammengedrückt werden und in einem von insgesamt vier großen Detektoren kollidieren. Jeder Detektor – oder wie die Fachleute sagen: jedes Experiment – ist etwas anders aufgebaut, um bestimmte Fragen zu beantworten.
Die zwei größten Experimente sind ATLAS (A Toroidal LHC Apparatus) und CMS (Compact Muon Solenoid). Es sind Universaldetektoren, mit denen Forscherinnen und Forscher alle möglichen physikalischen Phänomene untersuchen können – vom Ursprung der Masse bis hin zu Extra-dimensionen, die zur Stringtheorie gehören. Beide Experimente wurden unabhängig voneinander entwickelt und in hausgroßen unterirdischen Kavernen aufgebaut. Nur so kann man sicherstellen, dass neue Entdeckungen des einen Detektors am anderen Detektor bestätigt werden können.
Zwei weitere große Experimente, ALICE (A Large Ion Collider Experiment) sowie LHCb (Large Hadron Collider beauty), sind spezialisierte Detektoren, die Teilchenkollisionen in Bezug auf bestimmte Phänomene untersuchen.
Hinzu kommen kleinere Detektoren, darunter FASER (ForwArd Search ExpeRiment), mit dem man Neutrinos genauer erforschen und nach Hinweisen auf neue Elementarteilchen suchen möchte. Möglicherweise kommen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hier der rätselhaften Dunklen Materie auf die Spur.
Die Detektoren liefern enorme Datenmengen, jährlich sind es rund 15 Millionen Gigabyte. Die Rohdaten werden am CERN auf Band gespeichert, nach einer ersten Bearbeitung werden sie an Rechenzentren weltweit verteilt. Forscherinnen und Forscher können über das Netzwerk dann jederzeit zugreifen.
Die wohl bekannteste Errungenschaft jenseits physikalischer Entdeckungen am CERN ist das World Wide Web …
… Das WWW wurde im Jahr 1989 ersonnen, um den Datenaustausch zu verbessern.
In der jüngsten Wartungspause von Dezember 2018 bis Herbst 2021 wurden verschiedene Geräte erneuert. Beispielsweise hat man die Beschleuniger-technik verbessert, um mehr Teilchen mit höherer Energie in den Ring des LHC hineinzuschicken.
Außerdem wurde im ATLAS-Detektor das »New Small Wheel« installiert. Es soll besonders durchdringende Teilchen, die Myonen, registrieren und zugleich hohe Strahlenhärte sowie eine extreme Genauigkeit aufweisen.
Bislang trafen pro Sekunde rund 3000 hochenergetische Partikel pro Quadratzentimeter den Detektor. Im nächsten Beobachtungslauf werden es doppelt so viele sein, nach einem weiteren Upgrade von 2026 bis 2029 sollen es fünfmal so viele sein. Das wird die vorhandene Detektortechnik enorm belasten, ist aber nötig für künftige Projekte.
Außerdem hat man ein Stützelement aus Metall in den ALICE-Detektor montiert. Es trägt Kabel sowie Leitungen für Gase und Flüssigkeiten und einige kleinere Messapparate, wie die folgende Panoramaaufnahme im Detail zeigt. Am Ende wird allein dieses Element knapp 40 Tonnen wiegen.
Wie in vielen Bereichen hat die Covid-19-Pandemie auch die Wartungsarbeiten des LHC beeinträchtigt. Betroffen war zum einen der Bau neuer Komponenten, was angesichts geschlossener Universitäten und Forschungseinrichtungen nur verzögert gelang. Zum anderen war es schwierig, nach Genf zu reisen, um die Apparate am CERN zu montieren und zu testen.
Während der Wartung wurden die Vorbeschleuniger verbessert. Sie bringen Protonen auf mehr als 99 Prozent der Lichtgeschwindigkeit, bevor man die Teilchen in den großen LHC-Ring schickt.
Erneuert haben Teams auch dieses Gerät. Es sorgt dafür, dass »frische« Protonen passgenau in die nächste Beschleunigerstufe übergeben werden und dabei nicht jenen Protonenpaketen in den Weg kommen, die dort bereits zirkulieren.
Ein neuer Myonendetektor soll besonders durchdringende Teilchen registrieren und zugleich hohe Strahlenhärte sowie eine extreme Genauigkeit aufweisen. Rufname: New Small Wheel.
Es wird auf den beiden Seiten des ATLAS-Detektors sitzen und …
… besteht aus zahlreichen neuen Präzisionsspurdetektoren, an denen Physikerinnen und Physiker aus neun Ländern beteiligt sind.
Gut 100 Tonnen wiegt das Rad. Rund 80 Meter hat man es auf Ebene des LHC abgesenkt.
Was als Nächstes kommt? Der LHC soll bis zum Jahr 2025 laufen, dann noch einmal für größere Umbauten abgestellt werden und anschließend so leistungsstark wie nie zuvor neu starten. Ab 2029 soll die Maschine als »High-Luminosity LHC« arbeiten, mehr Kollisionen denn je erzeugen und diese analysieren. Physikerinnen und Physiker erwarten rund zehnmal mehr Daten, als im jüngsten Durchlauf erhoben wurden. Davon erhoffen sich die Wissenschaftler zusätzliche Entdeckungen binnen eines weiteres Jahrzehnts.
Was danach passiert, steht noch nicht fest. Zum einen sind noch mehr Higgs-Partikel von Interesse, um die Teilchen genauer zu analysieren. Zum anderen hätten viele CERN-Forschende gern einen größeren Teilchenbeschleuniger, der höhere Kollisionsenergien erzeugt. Das würde es erlauben, nach weiteren Phänomenen zu suchen. Zu alldem gehört »neue Physik«, die hilft, das Standardmodell der Teilchenphysik zu verbessern.
Derlei Zukunftsmaschine könnte ein Linearbeschleuniger sein oder ein gut 100 Kilometer langer Ringbeschleuniger, genannt Future Circular Collider. Ob solch ein FCC technisch möglich ist und die Anforderungen der Forschung erfüllen kann, wird derzeit mit einer Machbarkeitsstudie ergründet. Die Kosten für den FCC werden auf rund 20 Milliarden Euro geschätzt. Fest steht: Der Aufwand für einen 100 Kilometer langen Tunnel wäre immens, ebenso die Entwicklung der Technologien für den gewaltigen Beschleuniger und die Detektoren.
Wie der FCC aussehen könnte, zeigt das Video:
Derlei Pläne verfolgen nicht nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am CERN. In China soll bis 2030 ein 100-Kilometer-Ringbeschleuniger entstehen. Das Projekt namens CEFP (Circular Electron Positron Collider) wäre schneller als das europäische Pendant. Ob es Wirklichkeit wird, ist offen.
Trotz meiner Abneigung gegen Übertreibungen gehört der LHC zu einer Welt, die man nur mit Superlativen beschreiben kann. (Lisa Randall, aus »Knocking on Heaven's Door«)
ATLAS Collaboration, CERN; Bearbeitung: Spektrum der Wissenschaft
Maximilien Brice, CERN
Piotr Traczyk, CERN
Philippe Mouche, CERN 2014-2022 (http://cds.cern.ch/ record/1708847) / CC BY 4.0 (https://creative commons.org/ licenses/by/4.0/ legalcode)
CERN 1987-2022 (http://cds.cern.ch/ record/39027) / CC BY 4.0 (https://creative commons.org/ licenses/by/4.0/ legalcode)
CERN 2007
Michael Hoch, CERN 2007, for the benefit of the CMS Collaboration
CERN, for the benefit of the CMS Collaboration
ATLAS Collaboration, CERN
Piotr Traczyk, CERN
Maximilien Brice, CERN
Maximilien Brice, CERN
Maximilien Brice, CERN
Maximilien Brice, CERN
Spektrum der Wissenschaft / OpenStreetMap contributors
Julien Marius Ordan und Samuel Joseph Hertzog, CERN
Sophia Elizabeth Bennett, CERN
Sophia Elizabeth Bennett, CERN
Sophia Elizabeth Bennett, CERN
Maximilien Brice, CERN
Maximilien Brice, CERN
Maximilien Brice, CERN
Katarina Anthony, CERN
Maximilien Brice, CERN
Maximilien Brice und Julien Marius Ordan, CERN
Maximilien Brice und Julien Marius Ordan, CERN
CERN
Maximilien Brice, CERN
Maximilien Brice, CERN
CMS Collaboration, CERN
CERN