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Kämpfen um die letzten Tropfen

Ein Land trocknet aus. Tiere verenden. Menschen hungern, fliehen, bekriegen sich. Das Leben und Sterben der Kenianer lässt erahnen, wie hart die Klimakatastrophe die Menschheit trifft. Eine Reise zu den Massai und Samburu.

Text: Alina Schadwinkel

Foto & Video: Rick Castiglione, Alina Schadwinkel

Layout: Claus Schäfer



Flüsse sind versiegt, Böden sind Staub, Tiere verendet. Was lebt, leidet Durst und Hunger. Die verheerendste Dürre seit 40 Jahren zwingt Millionen Kenianer zur Flucht. Doch wohin fliehen, wenn es nirgends genug Trinkwasser gibt?

Die Menschen spüren, was es bedeutet, wenn das Leben austrocknet. Da ist der Massai-Älteste aus dem Ort Ewaso N'giro im Westen Kenias, der erzählt, wie er um seine Herden und seine Traditionen kämpft. Da ist die Managerin eines Safari-Camps, die um das bedeutende Naturschutzgebiet der Masai Mara fürchtet. Da sind der Stammesführer der Samburu in Archer's Post, der auf die Hilfe der Regierung hofft, während sich die Kadaver türmen, sowie eine Ernährungsberaterin, der die Mütter davonziehen, weil zu bleiben für ihre Kinder den Tod bedeuten würde. Und immer wieder Menschen, die auf der Suche nach Wasser Hunderte von Kilometern zurücklegen.

Ihr Kampf um das Überleben lässt das Ausmaß einer Klimakatastrophe erahnen, die längst begonnen hat, aber noch zu stoppen wäre. Denn sie ist menschengemacht.

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KAPITEL 1

Verdorrtes Land



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»Nichts ist so, wie es sein sollte«, sagt Kamishina David Ole Nkuito und blickt über seine verbliebene Herde, die nahe dem Ort Ewaso N'giro hartes Gras zermalmt. Wer wie der Massai-Älteste von der Natur und den Jahreszeiten abhängig ist, spürt besonders stark, wenn das Wetter unberechenbar wird.

Weil er geschäftlich in Narok war, der nächstgrößeren Stadt, trägt Ole Nkuito ein hellblaues Polo-Shirt, Khakihosen und Sneaker. Das sei seriöser als das übliche rot karierte Tuch namens Shuka, sagt er. Doch kurz darauf wirft er es sich nur allzu gern über, es wärmt. Ole Nkuito lebt die Moderne und die Tradition. Er fährt einen Land Cruiser, hat eine Schule mit aufgebaut, führt ein Safari-Unternehmen, und wenn nötig, treibt er sein Vieh mit einem Stock auf die Weide, zapft aus der Halsvene einer Ziege Blut, um es zu trinken, und liest aus der Bewegung von Schmetterlingen, ob der Regen kommt.

»Als ich ein junger Mann war, gab es in der Regel zwei Regenzeiten: eine von März bis Mai und eine von Oktober bis Dezember. Es gab monatelang eine Menge saftiges Gras und viele kräftige Rinder. Nun haben wir eine lange Dürre, kaum Gras und ausgezehrte Rinder, die sterben«, sagt der 52-Jährige. Das Wetter scheine neuen, eigenen Regeln zu folgen.

Massai-Frauen tragen Wasser von einem Brunnen nahe Ewaso N’giro zurück nach Hause.

Ole Nkuito erinnert sich an den vergangenen November. Weil der Regen ausblieb, musste sein ältester Sohn mit befreundeten Viehhaltern eine Herde 90 Kilometer weit treiben, um zumindest ein wenig Wasser und Gras zu finden. Während er daran denkt, schwindet sein Lächeln, die Stirn legt sich in Falten. Der Massai stützt sich mit beiden Händen auf seinen Stock und legt das Kinn darauf ab: »Mein Sohn und die anderen kehrten gesund zurück, dutzende Tiere schafften es nicht.«

Alle Dörfer in der Umgebung hätten Vieh verloren, berichtet James Letato Keshe, Ole Nkuitos Freund aus Kindertagen und seit zwölf Jahren Oberhaupt des Klans. »50, 20 – je nachdem, wie viele man besaß«, erzählt er weiter und schaut über sein Land. Er trägt eine Shuka über weißem Hemd und Anzughose und schwitzt auf einem Plastikstuhl neben seiner Lehmhütte. Zwei seiner Söhne haben sich angeschlichen und auf umgestülpte Eimer gesetzt, um dem Vater zu lauschen. Während Keshe überlegt, wie er das Leid in Worte fassen kann, trägt der Wind den Klang von Kuhglocken und das Gackern von Hühnern den Hügel hinauf.



Wir brauchen Essen, weil unsere Herden sterben. Jetzt.

»Seit ich Häuptling bin, habe ich keine vergleichbare Dürre erlebt«, sagt der 50-Jährige. Sein Job ist es, sich für seine Leute bei der Regierung einzusetzen. Die vergangenen Monate seien besonders anstrengend gewesen: »Wir brauchen Essen, weil unsere Herden sterben. Wir brauchen Brunnen, weil es hier keinen Fluss gibt. Wir brauchen eine gute Infrastruktur. Und wir brauchen das jetzt.« Es sei eine schreckliche Zeit, sagt er. Sie ist noch lange nicht vorbei.

In vielen Regionen Kenias warten die Menschen seit Jahren auf Regen. Wenn es regnet, fällt deutlich weniger Wasser als gewohnt. Ernsthaften Niederschlag gab es vielerorts weder in den langen noch in den kurzen Regenzeiten seit Oktober 2020. Nur in den Bezirken Lamu und Narok, wo der Ort Ewaso N'giro liegt, fielen im Mai 2022 immerhin nahezu durchschnittliche Mengen an Regen. Doch im Juni kehrte auch dort die Trockenheit zurück.

Freunde aus Kindertagen: Massai-Häuptling James Letato Keshe (links) und Kamishina David Ole Nkuito (rechts).

Wieder sind Ernten verdorrt, Wasserquellen versiegt. Es gibt von allem zu wenig für Kenias Bevölkerung und ihre Herden. Mehr als vier Millionen Menschen sind von Hunger bedroht, fast eine Million Kinder sind unterernährt und mindestens 1,5 Millionen Schafe, Ziegen und Rinder bislang verendet. Giraffen und andere Wildtiere verdursten qualvoll. Jeden Tag werden es mehr.

Die Katastrophe in Kenia ist menschengemacht. Mit jedem Baum, der im Mau-Wald fällt, mit jeder Tonne Sand, die an Flüssen wie dem Ewaso N'giro und Mara abgetragen wird, mit jedem Damm, der Elektrizität liefern soll, und jedem Farmer, der im Gebiet des Mara-Flusses Land bestellt, wird die Lage besorgniserregender. Der globale Klimawandel erhöht den Druck. Extreme Dürren werden zur Norm. Die Gier nach Wasser führt zu Neid und Gewalt, zu Hass und Tod.

KAPITEL 2

Kinder, was ist der Klimawandel?



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»Was ist Klima?« – »Die typischen Wetterverhältnisse eines Ortes im Verlauf von 30 Jahren.«

»Woran erkennen wir, dass Regen kommt?« – »Frösche quaken. Am Morgen liegt Tau. Die Luft riecht feucht. Kühe sind aufgeregt, Ameisen aktiv. Winde wehen stark aus einer bestimmten Richtung.«

»Was weist auf Dürre hin?« – »Vollmond. Klarer Nachthimmel. Bäume werfen Blätter ab. Viele Vögel. Bienen schwirren. Starke Winde.«

Bei jeder Frage hallt die Stimme des Lehrers durch den hohen Raum der Building Hope Academy. Die Kreide kratzt über die Tafel, während Philip Muntet die Antworten der 8. Klasse auf ihr festhält. Es ist neun Uhr morgens, es riecht nach Holz und Rauch. Füße schaben über den Boden, es raschelt, ein Lineal fällt von einem Tisch, an dem drei Schüler versuchen, nebeneinander zu sitzen.

»Und welche Faktoren beeinflussen das Klima?« – »Das Gelände. Winde. Ozeanströmungen. Die Entfernung zum Ozean. Die Form der Küste. Der Mensch.«

Aufmerksam blickt die Klasse Muntet an, um zur rechten Zeit im Chor die Antwort zu geben. Der Lehrer ist 29 Jahre alt. Seine eigene Schulzeit liegt schon ein paar Jahre zurück, doch auch er hat damals das Wesentliche über das lokale Klima und den globalen Klimawandel gelernt: wie sich das Klima der Erde schon mehrfach gewandelt hat, aber die weltweite Durchschnittstemperatur seit der Industrialisierung so stark und rasch gestiegen ist wie nie zuvor. Wie die Menschheit immer mehr Treibhausgase in die Atmosphäre bläst und diese weiter aufheizt. Und wie die höheren Jahresdurchschnittstemperaturen und das wärmere Wasser im südwestlichen Indischen Ozean beeinflussen, wann und wie viel Regen in Kenia fällt.

Der Lehrer Philip Kipingot Muntet erklärt Schülerinnen und Schülern den Klimawandel.

Er habe die komplexen Zusammenhänge als Kind zwar nicht begreifen können, sagt Muntet, aber ihm sei bewusst gewesen, dass sich sein Leben, seine Zukunft, mit dem Klima verändern wird. Er spricht ruhig, überlegt, der Unterricht ist vorbei, seine Hände liegen gefaltet auf einer von Wasserflecken gezeichneten Tischplatte. An der Wand hängt ein handgeschriebener Stundenplan für Muntet und seine Kollegen. »Jetzt, da ich als Lehrer unterrichte, kann ich die Schüler ermutigen, die Zerstörung der Umwelt zu stoppen«, sagt er. Damit sie eine Zukunft in Kenia haben können.

Weshalb die Dürre so verheerend ist? Das hat auch mit lokalen Problemen zu tun. »Weil viele Menschen die Natur seit Jahrzehnten überstrapazieren«, sagt Muntet. Millionen Bäume werden gefällt, um Farmland zu schaffen. Farmer pumpen Wasser aus den Böden, der Grundwasserspiegel sinkt. Einige Kenianer nutzen Latrinen, die oft in der Nähe von Brunnen stehen, was das wenige verfügbare Wasser verunreinigt. Zudem landen immer mehr Pestizide und andere Chemikalien in Gewässern, die nicht sorgfältig gereinigt werden. Regen hingegen wird nur unzureichend aufgefangen, gespeichert und verteilt. Man schöpft so viel Sand aus Flüssen, dass ihre Ufer instabil werden und Wasser versickert oder in Zeiten starken Regens das Land überflutet. Und dann ist da noch der globale Klimawandel.

Kenia trägt bisher weniger als ein Prozent zu den weltweiten Kohlendioxid-Emissionen bei, Afrika insgesamt zwei bis drei Prozent. Der Kontinent leidet aber bisher am meisten unter den Folgen des Klimawandels. So steigt dort die Temperatur mit etwa 0,3 Grad Celsius pro Jahrzehnt von 1991 bis 2021 schneller als im Rest der Welt. Das geht aus einem Bericht der World Meteorological Organization von 2021 hervor.



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Schon jetzt ist die Lage im Land dramatisch. Zugleich müsse sich die Bevölkerung auf eine Zukunft mit noch sehr viel mehr Dürren einrichten, schreibt der Weltklimarat in einem Report von 2021. Selbst wenn es noch gelingen sollte, die Erderwärmung auf weniger als 1,5 Grad zu beschränken.

Sich an das wandelnde Klima anzupassen ist eine Herausforderung. Es zu schützen ebenfalls. Zu den natürlichen Verbündeten im Kampf gegen den Klimawandel gehören unter anderem Wälder.

KAPITEL 3

Erst schwindet der Wald, dann der Regen



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Nördlich von Narok führt die Straße durch Orte, die selten mehr sind als eine Reihe wellblechbedeckter Steinbauten. Auf bunt bemalten Wänden wird für lokale Metzgereien, landesweite Mobilfunkanbieter und weltweite Zahlungssysteme geworben. Gräben trennen die Häuser von der Straße – sie sollen Überschwemmungen der Behausungen verhindern.

Entlang der Straße laufen Menschen von einer Siedlung zur nächsten oder warten darauf, die Straße queren zu können. Sie lassen Merinoschafe und Esel, mit lebenden Ziegen beladene Motorräder und überfüllte Transporter vorbeiziehen, während sich feiner Staub auf allem niederlässt. Der Wind weht ihn von den trockenen Feldern herüber, die sich bis zum Horizont zwischen den Ortschaften erstrecken. Auch dort, wo bis vor wenigen Jahren noch die Bäume des Mau-Walds standen, eines riesigen Hochlandwalds in Ostafrika. Er versorgt weite Teile Kenias mit Wasser und beeinflusst sogar die große Tierwanderung in der Masai Mara und der Serengeti.

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Wie Kenia sich verändert hat, was das für seine Leute bedeutet und weshalb ist es so schwierig, neue Bäume zu pflanzen, erzählt Massai-Oberhaupt James Letato Keshe im Video.

»In der Vergangenheit war es ein indigener Wald, den niemand betreten hat«, erklärt James Letato Keshe. Bongos (Tragelaphus eurycerus) sind dort zu Hause ebenso wie Gelbrücken-Ducker (Cephalophus silvicultor) und Waldelefanten (Loxodonta cyclotis). Den Massai war es erlaubt, die lichteren Stellen während der Trockenzeit als Weideland für ihr Vieh aufzusuchen. »Aber dann sind einige Leute immer wieder unerlaubt eingedrungen, während andere immer mehr davon für persönlichen, politischen Erfolg frei gegeben haben.«

Genau genommen ist der Mau nicht mehr ein dichter Wald mit geschlossenem Kronendach, sondern besteht aus mehreren Wäldern, zerfetzt von Teeplantagen, Straßen, brach liegendem Land: Eastern Mau, Ol'donyo Purro, South-West Mau, Transmara, Masai Mau, Southern Mau und Western Mau. Die Bäume der Wälder müssen für Rinderherden sowie Nutzpflanzen weichen und werden weiterhin illegal als Brennholz geschlagen, um Holzkohle herzustellen. In der Folge ist der Mau zwischen 1984 und 2020 um ein Viertel geschrumpft.

»Die Abholzung hat spürbare Folgen«, sagt Keshe. Das Prinzip ist rasch erklärt: Aus dem Mau steigt kühle Luft auf, die auf die warme Luft vom Victoriasee trifft. Das Ergebnis der Kollision ist Regen. Weniger Wald jedoch bedeutet weniger kühle Luft und somit weniger Regen. In Zeiten von Dürre eine zusätzliche Gefahr.

Wir müssten künstlich bewässern. Das können wir uns nicht leisten

Der bedrohte Wald sorgt nicht nur für Niederschlag. Für rund zehn Millionen Menschen sind die Flüsse, die dort entspringen, überlebenswichtig, darunter der Ewaso N'giro und der Mara – der »Mutterfluss«, wie Keshe ihn nennt. Weil ohne ihn weder Gnus noch Elefanten, Zebras und die von ihnen abhängigen Löwen, Krokodile und Hyänen existieren könnten, gilt er als Lebensader der Masai Mara. Als einziger Fluss in den Reservaten führt er auch zur Trockenzeit Wasser, sogar in Zeiten extremer Dürre.

Doch seit den 1970er Jahren sinkt der Wasserpegel. Es wächst die Sorge, dass der Fluss bald zu wenig Wasser führt, um die Tiere in den entscheidenden Monaten zu versorgen, und letztlich vollständig versiegen könnte. Im Jahr 2009 fiel der Strom für einige Zeit zum ersten Mal trocken.

Was die Massai tun könnten, um die Katastrophe zu verhindern? »Momentan nicht viel. Bäume pflanzen, damit es regnet, zum Beispiel«, sagt Keshe. Er selbst habe es mit 300 Bäumen versucht, sie allerdings nicht ausreichend vor Tieren geschützt. Die Setzlinge wurden deshalb rasch von Ziegen gefressen. Für einen weiteren Versuch fehlen Geld und Wasser. »Da es nicht regnet, müssten wir künstlich bewässern. Das können wir uns nicht leisten.« Er weist mit seinem Stock in die Ferne: »Aber wir brauchen neue Bäume, und wir müssen verhindern, dass der Mau-Wald verschwindet.«

KAPITEL 4

»Wenn der Fluss weg ist, wird es die Mara nicht mehr geben«



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»Nahezu mein gesamtes Leben habe ich in diesen Bergen mit Blick auf den Fluss verbracht«, erzählt Damaris Nailantet Looseyia. Sie hat ihre Heimat in der Masai Mara für das BWL-Studium verlassen, anschließend kehrte sie als Managerin des Tangulia Mara Camp zurück, das auf einem Hügel nahe dem Mara-Fluss liegt.

Im Licht der untergehenden Sonne spricht die Massai über ihr Leben. Wenige Minuten zuvor waren Zebras durch das Tal in Richtung Fluss gezogen, um zu trinken, später schlich sich ein Elefant ins Bild und Wasserbüffel lenkten grunzend die Aufmerksamkeit auf sich. »Unser Land und unsere Tiere sind uns heilig«, sagt die 30-Jährige.

Wie hat sich die Gegend seit Ihrer Kindheit verändert?

»Manches in vielerlei Hinsicht zum Guten. Etwa, dass der Tourismus zu einer der Hauptquellen für den Lebensunterhalt geworden ist. Viele Unternehmen beschäftigen Einheimische aus den Dörfern oder bieten Produkte der umliegenden Farmen an.«

Damaris Nailantet Looseyia ist in der Massai Mara groß geworden, nun leitet sie dort ein besonderes Safari-Camp.

Und was ist schlechter als damals?

»Als ich jünger war, gehörte das gesamte Land der Gemeinschaft. Ich nahm die Kühe meines Vaters, ließ sie auf einer Weide grasen, bis es genug war, und zog dann weiter zur nächsten. So war sichergestellt, dass sich der Boden erholen konnte.

Mittlerweile hat die Regierung das Land aufgeteilt, jede Familie erhält eine Eigentumsurkunde. Man darf seine Kühe also nur dort weiden lassen, es sei denn, jemand anders gesteht einem Platz zu. Doch ein guter Massai hat viele Rinder – oft mehr als andere beherbergen wollen oder können –, und wegen der Überweidung werden Böden geschädigt. Die Natur stirbt, die Wüste breitet sich aus, vor allem im Norden. Überhaupt haben sich die Vegetation und das Klima stark verändert.«

Inwiefern?

»Der Mara-Fluss hat in den vergangenen Jahren enorm an Kraft verloren. Das ist beängstigend. Das Überleben von mehr als einer Millionen Gnus, hunderttausenden Gazellen und Zebras sowie Löwen, Geparden und Hyänen hängt von ihm ab. Wenn der Fluss erst einmal weg ist, wird es die Masai Mara nicht mehr geben.«

Während der Migration queren Millionen von Gnus den Mara-Fluss.

Was sind die Ursachen?

»Die Abholzung in den Mau-Wäldern sicherlich. Hinzu kommen die Besiedlung und der Klimawandel. Die Zeiten, in denen wir kurze und lange Regenfälle hatten, sind vorbei. Es herrscht eine lang anhaltende Dürre, was zum einen bedeutet, dass viele Leute ihr Vieh aus anderen Gebieten in die Mara bringen, um es zu versorgen. Das ist erlaubt, doch es gibt nun mal nur so viel Nahrung, wie es gibt. Die Wildtiere wollen ausweichen, doch wohin sollen sie gehen?

Zum anderen bedeutet weniger Regen weniger üppig grüne Weiden. Um zu fressen, wandern aber üblicherweise die Gnus für drei bis vier Monate pro Jahr aus der Serengeti her. Früher, im Jahr 2020, kamen sie im Juli, vergangenes Jahr sogar erst Ende September, um zwei Monate darauf wieder zu gehen. Das ist Besorgnis erregend, auch weil viele Touristen wegen der Migration herkommen.«



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Die Massai sind dafür bekannt, sich von der modernen Welt fernzuhalten und im Einklang mit der Natur zu leben. Sie haben sich für ein Studium entschieden, um fremde Ansätze zu lernen und anzuwenden. Ist das die Lösung – die Kultur ein Stück weit aufgeben?

»Das ist wichtig, weil sich die Welt verändert hat und das traditionelle Leben in vielerlei Hinsicht nicht mehr praktikabel ist. Insbesondere die Tatsache, kein Land mehr gemeinschaftlich zu besitzen, bedeutet, bessere Wege finden zu müssen, um das, was man hat, zu nutzen.

Wir brauchen Profis, die wissen, wie man ein Camp managt, und zugleich respektvoll gegenüber den Tieren und der Natur sind, weil sie sich als Teil von ihr verstehen. Ich mache das auch für mich, die hier aufgewachsen ist und dieses Land erben wird. Als Massai, Unternehmerin und Mutter will ich es bewahren. Es ist meine Pflicht.«

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Das macht Mut. Allerdings sind Sie nur eine von wenigen. Es gibt zahlreiche Hoteleigner, die es anders handhaben – manche Camps sind mit Erlaubnis der Regierung sogar inmitten der Wanderrouten von Gnus gebaut … Es gibt den illegalen Holzeinschlag, Sand, der dem Flussbett entnommen wird, steigende Temperaturen … Was lässt Sie hoffen?

»Sicher: Wegen all des Viehs wird der Boden so stark geschädigt, dass sogar das Gras, das neu wächst, eine andere Art von Gras ist, und wegen der Abholzung im Mau-Wald könnte der Fluss versiegen. Wenn das geschieht, weiß ich nicht, was der Morgen bringen wird. Ich weiß es wirklich nicht und es ist beunruhigend. Es muss also vieles anders gemacht werden. Wenn nicht, laufen wir Gefahr, den Zauber der Mara zu verlieren. Das Gute ist ja aber, dass wir die Probleme und damit die Lösung bereits kennen.

Als menschliches Wesen versuchen wir, alles zu kontrollieren. Das ist falsch. Wir sollten versuchen, mit der Natur zu leben. An dem Tag, an dem wir das erkennen, werden wir als Spezies überleben. Und wenn wir das nicht tun, nun, die Natur hat einen Weg, sich selbst zu schützen. Vor allem für den Menschen wird es dann schwierig. Ich denke dabei allerdings weniger an meine Tochter als an ihre Kinder und Kindeskinder.«

KAPITEL 5

Verzweiflung in Archer's Post





Mehr als 450 Kilometer weiter nördlich giert die Natur nach Wasser. Gräser sind ausgeblichen, die Böden spröde. Sie wurden aufgesprengt von einer Hitze, die durch die Schuhsohlen dringt und sich um den Körper legt. Gleichmäßig wirbeln Sandtornados am Horizont. Sie haben Zeit, Regen ist fern.

Es ist die Region der Samburu. Das Hirtenvolk ist es – wie die Massai – gewohnt, umherzuziehen, um sich zu versorgen. Doch auch die Samburu müssen sesshaft werden, um zu überleben. Auch im Norden sind mittlerweile große Teile des Lands in Privatbesitz oder Teil von Naturschutzparks. Die Gegenden zu betreten, ist oft verboten, was es erschwert, mit den Herden zu wandern. Derweil haben anhaltende Hitze und Trockenheit die letzten Weiden vernichtet.

Eine Mischung aus Sand und Schlamm bedeckt das karge Land, das einst von den Wassern des Flusses Ewaso N'giro überschwemmt gewesen war. Statt Akazien, Wildfeigen und Lebkuchenbäumen stehen nahe dem Ort Archer's Post Lastwagen an den Ufern, die dutzende junger Männer mit Sand beladen, den sie tonnenweise aus dem Bett des Flusses schippen. Der abgetragene Erdboden lässt sich gut verkaufen und sichert so die nächste Mahlzeit. Doch weil immer mehr Sand fortgeschafft wird, werden die Ufer instabiler und das Wasser versickert in der Umgebung. Damit steigt das Risiko, dass der Ewaso N'giro für immer austrocknet.



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In Archers' Post gehören Schüsse seit Monaten zum Alltag. Nicht nur in der Nacht, auch tagsüber sind sie zu hören. Hirten jagen einander Tiere ab, dringen in fremdes Land ein und schießen auf jene, die sich ihnen in den Weg stellen. »Man gewöhnt sich an die Geräusche«, sagt Christine Lekodei, die durch die umherliegenden Dörfer zieht, um Schwangere und Mütter über Hygiene aufzuklären und ihnen zu helfen, ihre Kinder zu ernähren. »Vor der Dunkelheit möchte ich dennoch daheim sein«, erzählt die 25-Jährige weiter. Sonst fühle sie sich nicht mehr sicher.

Die Luft flirrt in der Stille. Dann schlurfende Schritte auf rauem Grund. Eine Älteste hat in bunte Stoffe gehüllt ihre Behausung verlassen, um Lekodei in einem Dorf nahe Archer's Post zu begrüßen. »Die Familien hier kennen mich. Ich erkläre ihnen, wann es wichtig ist, die Hände zu waschen, und wie man hygienische Toiletten baut.« Doch viele erzählen ihr, es gebe nicht genug Wasser, um sich sauber zu halten. »Ich erzähle den Frauen auch, dass sie vier- bis fünfmal am Tag essen sollen, doch sie sagen mir, sie können sich nur eine Mahlzeit am Abend leisten«, sagt Lekodei.

»Normalerweise müsste hier Wasser fließen«, sagt Christine Lekodei, Ernährungsberaterin, vor dem Interview im Flussbett.

Frauen sind von den Folgen der Dürre stärker betroffen als Männer. Da sie tendenziell weniger verdienen und weniger vermögend sind, haben sie noch weniger Rücklagen. Das zeigt eine Analyse des World Food Programme. Was die Zahlen ebenfalls belegen: Rund 30 Prozent der Kinder in ländlichen Gebieten und 20 Prozent der Jungen und Mädchen in den Städten sind unterernährt. »Erhebliche Vitamin- und Mineralstoffdefizite sind ein schwer wiegendes Problem für die öffentliche Gesundheit«, heißt es in der Studie weiter. Der Mangel an sauberem Wasser erhöht das Risiko für Durchfallerkrankungen und Cholera.



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Wie drastisch das Leben in Zeiten der Dürre ist und was der Verlust von Tieren für die Samburu bedeutet, erzählt die Ernährungsberaterin Christine Lekodei im Video.

Üblicherweise sehe sie dieselben Frauen und Kinder alle paar Wochen wieder, erzählt Lekodei. Die Arbeit der vergangenen Jahre habe sich gelohnt, die Kinder in ihrem Bezirk seien nach und nach gesünder geworden. Doch mittlerweile zwingt die Dürre viele Frauen, so weit zu wandern wie nie zuvor. Es ist ihre Aufgabe, Wasser und Nahrung zu besorgen, die Hütten zu bauen und den Nachwuchs großzuziehen. »Wenn sie können, werden sie zurückkehren«, sagt Lekodei, so sei es schon immer gewesen. Allerdings habe sie manche Frauen seit Monaten nicht gesehen. »Ich frage mich, ob sie noch leben«, sagt sie.

Hat sie selbst Kinder? Lekodei schüttelt den Kopf. »Ich kann nicht einmal mich ordentlich ernähren, wie könnte ich da ein Kind bekommen?« Fürchtet sie sich vor den kommenden Monaten? Schweigen. Dann: »Was wird meine nächste Mahlzeit sein? War das, was ich eben aß, womöglich das Letzte? Werde ich je an den Ort zurückkehren, den ich soeben verlassen habe? Wird es je wieder regnen? Für mein Volk ist alles ungewiss.« Es bleibe nur die Hoffnung.

Sehen heißt glauben. Fühlen heißt glauben. Zuhören heißt glauben
Von einem Ort zum nächsten ziehen zu wollen, ist ein tiefes Gefühl
Es ist, als würde ich die alten Traditionen für immer verlieren



Seit Jahren steigen die Preise für Grundnahrungsmittel wie Maismehl, Kartoffeln, Zwiebeln und Speiseöl. Die Inflation bei Lebensmitteln lag im Mai 2022 bei mehr als zwölf Prozent, weshalb viele Kenianer Schwierigkeiten haben, Essen auf den Tisch zu bringen. Nach Angaben des Kenya National Bureau of Statistics ist die Belastung für ärmere Haushalte, in denen Lebensmittel mehr als ein Drittel der Gesamtausgaben ausmachen, noch höher. Da natürliche Wasserquellen versiegen, stieg laut UNICEF in manchen Gebieten der Preis für Wasser um bis zu 400 Prozent im Vergleich zum Januar 2021.

Die Pandemie, das Wetter, der Krieg in der Ukraine, höhere Importkosten – es gibt zahlreiche Gründe, die alle zum selben Ergebnis führen: Große Teile der Bevölkerung sind auf die Unterstützung der Regierung angewiesen. Doch die Menschen im Norden fühlen sich alleingelassen.

Der Samburu-Älteste David Lokia steht rechts neben seinem Häuptling Steven »Mantarian« Lesalkapo.

David Lokia lebt nahe Archer's Post in einem Dorf namens Nangina. Die Heimat des Samburu-Ältesten ist eine Ansammlung von Hütten, gebaut aus gebogenen Ästen, Kuhdung und Erde, einige überzogen mit schimmernden Plastikplanen. Sie wölben sich ringförmig verteilt auf dem trockenen Grund inmitten von Akazienbäumen, die selbst zur Mittagszeit kaum Schatten spenden, weil die Sonne senkrecht vom Himmel scheint.

»Uns hat seit Jahren niemand von der Regierung besucht«, erzählt Lokia. »Wir sehen die Helikopter, wie sie kreisen und kreisen.« Aber weder der Gouverneur lande in der Region noch die Nahrung, die seine Leute verteilen sollen. »Dieses Dorf sollte Bohrlöcher bekommen, der Fluss ist schließlich nicht weit. Doch die Regierung macht nichts«, sagt der 42-Jährige. Er spricht von Korruption und einer Politik von Reichen für Reiche. »Das wird sich auch nach dieser Präsidentschaftswahl nicht ändern. Es war noch nie anders.« Seit September 2022 ist der vorherige Vizepräsident William Ruto der neue Staatschef, laut Meinungsumfragen der korrupteste Politiker im Land.

Also versuchen die Samburu sich anzupassen. »Von einem Ort zum nächsten ziehen zu wollen, ist ein tiefes Gefühl in mir«, erzählt Lokia. Er verstehe alle, die ihre Tiere trotz Verbot in Naturschutzgebiete treiben, um sie am Leben zu halten. Doch der Drang umherzuziehen lasse nach. »Das ist verwirrend. Es ist, als würde ich mich und die alten Traditionen für immer verlieren.« Schon jetzt sei seine Heimat kaum wiederzuerkennen: »Weil der Busch so dicht war, fürchtete ich mich vor Tieren, wenn ich zur Schule ging. Nun liegt alles offen.« Im Dorf wiederum würde es üblicherweise von Kühen, Ziegen und Hühnern wimmeln. »Am Nachmittag hörten wir die kleinen Ziegen nach ihren Müttern rufen. Seit der Dürre vermisse ich dieses Geräusch.« Die Stille zeugt vom Tod, der in Nangina längst zum Alltag gehört.

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Wie Lokia und seine Leute überleben? »Mit Glück.« Ob er eine Zukunft für sich und sein Volk sieht? »Nein, denn eine Zukunft plant man, und wir haben nichts mehr, auf das wir uns verlassen können.« Was er sich wünsche? »Dass jene Menschen, welche Maßnahmen zum Klimaschutz diskutieren, herkommen. Sehen heißt glauben. Fühlen heißt glauben. Zuhören heißt glauben. Die Trockenheit. Die Hitze. Die Wahrheit ist, dass manche dieser Leute hier bis heute Nachmittag noch nichts zu essen hatten.«

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Wer, fragt Lokia, könnte die Not wirklich verstehen? Wer könne für all jene, die schon heute unter den Folgen des Klimawandels leiden, Sinnvolles beschließen, wenn er in klimatisierten Räumen in die neuesten Anzüge gehüllt feinstes Steak genieße?

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Welche Folgen die Dürre hat und inwiefern sein Dorf sich von der Regierung alleingelassen fühlt, erzählt der Samburu-Älteste David Lokia im Video.

Was Lokia erlebt, betrifft Millionen Menschen. Ihre Geschichten tragen sie mitsamt der Hoffnung, sich selbst und ihre Kinder zu retten, von Dorf zu Dorf, begleitet von der Angst, überfallen, verletzt, gar getötet zu werden. Manche dieser Orte sind ebenfalls bloß eine Ansammlung von Hütten auf staubigem Grund. Andere liegen an Flüssen, die dafür bekannt sind, dauerhaft Wasser zu tragen. Wieder andere weiter im Norden sind umgeben von Bergen, mit Blick auf den Gipfel des Poi.

Wer ihn als Frau erklimmt, kommt als Mann zurück, heißt es. Ein Mann als Frau. So schwierig sei er zu besteigen. Die Steilwände sind bunt gezeichnet, nicht horizontal, sondern vertikal gestreift. Aus der Ferne wirkt manch helle Linie wie ein Wasserfall, obwohl klar ist, dass es dort keinen geben kann.



KAPITEL 6

Verloren im Norden



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Ob man auf dem richtigen Weg ist, lässt sich hunderte Kilometer nördlich von Archer's Post nicht erkennen. Ein Motorradfahrer, der aus dem Staub kommt, sagt, man müsse dort, wo der Busch ist, die Straße verlassen. Nach dem Abzweig bleibt die Schotterpiste zurück und die Fahrt auf der offenen Sandebene beginnt. Unter der gleißenden Sonne sind die Spurrillen anderer Fahrzeuge nur mit zusammengekniffenen Augen zu erkennen. Aber sie sind da – jemand muss diese Route schon einmal gewählt haben.

Wenige Minuten später ist das Ziel erreicht: die Schule »Farakoren«, wie auf dem Tor zu lesen ist. Umzäuntes Land, das aussieht wie alles andere drumherum: staubiger Boden, dornige Büsche, ein paar Akazien. Dazwischen eine Hand voll im Kreis angeordnete Steinhäuser mit Wellblechdächern, von denen einige flirrend mit dem Himmel zu verschmelzen scheinen, andere sich dank funkelnder Solarpaneele deutlich davon abheben.

Henry Sales Wambile gehört zur Volksgruppe Rendille und leitet die Farakoren-Schule.

Der Schulleiter Henry Sales Wambile steigt von seinem Motorrad. Neun Lehrer gibt es dort für 230 Schülerinnen und Schüler, sagt Wambile auf dem Weg zu einem leeren Klassenraum, um das Gespräch im Schatten fortzusetzen.

Warum ausgerechnet im Nichts?

»Damit auch die Kinder umherziehender Völker lernen können und – das ist in diesen Zeiten fast wichtiger – zumindest eine Mahlzeit am Tag bekommen und eine Zuflucht haben. Schon immer gab es hier in der Gegend wenig Nahrung, doch mit jedem Monat ohne Regen wird es schlimmer. Inmitten der Trockenheit ist unsere Schule eine Oase der Hoffnung.«

Wann hat es das letzte Mal geregnet?

»Es gab ein paar Tropfen vor einigen Monaten, das war aber zu wenig, um unseren Wassertank zu füllen. Wirklich geregnet hat es seit Jahren nicht, weshalb alle Flüsse seit Jahren trocken liegen und der Grundwasserspiegel stark gesunken ist. Nahezu alle Dämme und Wasserlöcher sind ausgetrocknet. Die Vegetation ist abgestorben, die Böden sind verdorrt. Anbauen lässt sich hier kaum etwas. Und die Dürre soll anhalten.



Kinder sind so unterernährt, dass sie den Schulweg nicht mehr schaffen

Ohne internationale Hilfe werden die Hirtenvölker nicht überleben. Wegen Corona mussten wir zwischenzeitlich elf Monate schließen. Seit der Wiedereröffnung sind längst nicht alle Kinder zurückgekehrt.«

Es ist ziemlich leer heute. Und so still …

»Diese Schule wird von Kindern aus Dörfern besucht, die bis zu zehn Kilometer entfernt liegen, vor allem von Jungen und Mädchen der Klassen eins bis drei. Doch einige sind mit ihren Familien zu Camps gereist, wo es noch Kühe und Ziegen gibt. Andere sind mittlerweile so unterernährt, dass sie den Weg nicht mehr schaffen. Eine gesamte Generation verpasst die Chance auf Bildung und damit die Chance auf eine bessere Zukunft.«

Haben Sie Kinder?

»Vier: Eine Tochter ist in der 8. Klasse, ein Sohn in der 6., der zweite in der 4. und die Kleinste geht in die 2. Klasse. Sie sollen die Möglichkeit haben, zur Universität zu gehen. Doch bei dem, was hier passiert, weiß ich nicht mal, ob sie einen Schulabschluss machen können. Ich sorge mich als Vater, als Lehrer und als Leader der Community in dieser Region.

Was hier passiert, ist grausam. Aus Armut stehlen Menschen einander Tiere und Stämme bekämpfen sich bis auf den Tod. Die kenianische Regierung hat nach zahlreichen Morden zwischenzeitlich eine Ausgangssperre verhängt – stellen Sie sich das mal vor! Ich bin mir sicher: In 100 Jahren wird es meine Leute nicht mehr geben.«



Dass Schülerinnen und Schüler Schuhe tragen, ist eine Regel an der öffentlichen Schule. »Aber mir ist es lieber, die Kinder kommen barfuß als gar nicht«, sagt der Schulleiter.

KAPITEL 7

Möge die Rettung beginnen



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Zurück im Südwesten hat es sich in Ewaso N’giro abgekühlt. Die Shuka liegt Ole Nkuito enger um die Schultern, die Sandalen sind Turnschuhen gewichen. Ob ihn die grauen Wolken glücklich machen? »Nein«, sagt der Massai, »das sind keine Regenwolken. Sie bewegen sich zu schnell, außerdem ist es zu kalt.« Er betrachtet seine jüngste Tochter, die an der Hand ihres Bruders in eine flauschige Jacke mit Leopardenmuster und Ohren an der Kapuze gehüllt zur Schule tapst. Geht es nach Ole Nkuito, wird auch sie eines Tages studieren wie ihr ältester Bruder, Land besitzen und bei der Wahl ihres Partners mitreden, ohne vergessen zu haben, wie man die Sprache der Massai spricht, Geschichten mit Hilfe von farbigen Perlen in Ketten knüpft oder den Becher von Gästen immer dann nachzufüllen, wenn er weniger als halb voll ist.

»Die Frage ist nicht, ob Veränderung erlaubt ist, die Frage ist, welche Veränderungen sinnvoll und welche unausweichlich sind«, sagt Ole Nkiuto. Ein Massai ohne Rinder sei beispielsweise unvorstellbar. »Ohne dein Vieh bist du nichts, niemand achtet dich. In unserer Kultur sind Rinder mehr Wert als jeder Betrag auf dem Bankkonto.« Die Tiere sind ein Zeichen für Wohlstand. Aber die Herden zu verkleinern, Massai-Rinder mit anderen zu kreuzen und in Milchkühe zu investieren, sei eine kluge Weiterentwicklung, »weil sie uns stärkt, ohne die Tradition aufzugeben«, sagt er. »Was zu bewahren und was mit dem Rest der Welt zu teilen ist, muss jede Volksgruppe für sich herausfinden.« Besser früher als später, fügt er hinzu.

Ob ihn die grauen Wolken glücklich machen? »Nein«, sagt der Massai, »das sind keine Regenwolken«.

Die Menschen in weiten Teilen Kenias erleben derzeit Unheil, Pessimismus, Verzweiflung. Ihr Dasein ist bestimmt von einem sich wandelnden Klima, das bestehende Konflikte verstärkt und für neue Not sorgt. Was für die Bewohner der Industrienationen ein Schreckensszenario der Zukunft ist, ist dort längst Realität.

Doch die Geschichten der Massai und Samburu erzählen auch von Widerstandsfähigkeit, Mut und der Überzeugung, dass die Menschheit sich der Natur wieder annähern kann, wenn bloß genügend von uns gewillt sind, die Zukunft anzunehmen, aus Fehlern zu lernen und sich anzupassen.

»Statt für sich selbst zu kämpfen, gilt es, gemeinsam Lösungen zu finden«, sagt Ole Nkuito. Sei es wie im Mau-Wald, wo Einheimische, Umweltschutzorganisationen und die Regierung begonnen haben, Kahlschlagflächen wieder aufzuforsten. Oder wie in den Regionen West-Pokot und Turkana, weit im Norden des Landes, deren Vertreter 2022 nach Jahren des Krieges ein Friedensabkommen über Viehzucht und Weideland unterzeichnet haben. Ein Schritt in die richtige Richtung hätte die COP27 sein können, die im November 2022 in Ägypten und damit auf afrikanischem Boden stattfindet. Der Gipfel brachte einen »historischen Sieg« für die Klimareparationen, wie manche Medien berichteten, blieb aber bei den Emissionsreduktionen hinter den Erwartungen zurück.

»Die Krise bietet die Chance, die Kluft zwischen Gemeinschaften zu überbrücken«, sagt Ole Nkuito. »Doch dafür müssen wir einander achten, zuhören und uns für unsere Besonderheiten schätzen.« Das hätte er nur zu gerne den Entscheidern auf der Klimakonferenz in Sharm El-Sheikh erklärt – mit so vielen indigenen Menschen aus Kenia und anderen Ländern wie möglich an seiner Seite. ◼︎