Story
PHYSIKDie fünfte KraftEine bisher unbekannte Kraft soll die Welt der Atomkerne erzittern lassen. Doch gibt es sie wirklich? Ist das ominöse X17 ihr Bote? Geisterteilchen-Jäger haben die Fährte aufgenommen.
X17, das Gespenst
Der Geisterjäger
Der Geisterjäger
Für den ungarischen Physiker begann die Suche bereits vor 20 Jahren, mit dem Anruf seines niederländischen Kollegen Fokke de Boer, der begeistert von dem neuen Teilchen erzählte. Erst war Krasznahorkay skeptisch, ließ sich Unterlagen zuschicken, wägte ab. Dann sagte er zu. »Ich dachte damals, die Sache hat sich nach einer Woche erledigt.«
Heute ist der Ungar noch immer dabei, und mittlerweile so etwas wie der Anführer der Jagd. In seinem Büro am Atomki-Forschungsinstitut hat er mehrere akkurat getackerte Fachaufsätze ausgebreitet, durch die Jalousien fällt die Nachmittagssonne. Mit dem Finger zeigt er auf eine kleine Beule in einer Messkurve, keine drei Zentimeter hoch. Die Fährte von X17, glauben Krasznahorkay und sein Team. »Es ist eine winzige Abweichung.«
Daniele Scheres Firak
Student aus Brasilien, hilft bei der Datenanalyse.
Barna Nyakó
Doktor der Physik, ist vor kurzem in Ruhestand gegangen. Hat davor 45 Jahre am Atomki-Institut gearbeitet.
Félegyházi Lóránt
Techniker, hat beim Zusammenbau des Experiments geholfen.
Zoltán Pintye
Ist Ingenieur und hat die neueren Teilchendetektoren der Gruppe entworfen.
Attila Krasznahorkay
Außerplanmäßiger Professor. Koordiniert die Suche nach X17 am Atomki-Institut. Hat das Experiment mit aufgebaut, die Daten analysiert und die Fachaufsätze darüber geschrieben.
Margit Csatlós
Promovierte Physikerin im Ruhestand. Expertin für Monte-Carlo-Simulationen, mit denen sich die Abläufe im Mikrokosmos nachstellen lassen.
János Timár
Promovierter Physiker und Experte für die Spektroskopie von Gammastrahlung aus Kernzerfällen.
Nándor Sas
Doktorand von Attila Krasznahorkay, hilft bei der Datenanalyse und den Simulationen.
David gegen Goliath
David gegen Goliath
In Debrecen ist alles ein paar Nummern kleiner. Attila Krasznahorkays Team besteht aus einem Dutzend Leute, darunter sein Sohn, der ebenfalls Physiker ist. Hin und wieder dürfen auch talentierte Gymnasialschüler helfen. Der Teilchenbeschleuniger für die X17-Suche passt dabei bequem in ein Gebäude von der Größe einer Schulturnhalle. Und der entscheidende Detektor erinnert auf den ersten Blick an ein Glücksrad, an das jemand zu viele Kabel angeschlossen hat.
Seit die ungarische Gruppe im Januar 2016 die Messdaten mit der Beule veröffentlicht hat, rätseln Experten in aller Welt: Ist Außenseitern hier ein historischer Durchbruch gelungen? Oder ist das Experiment der Ungarn fehlerhaft, X17 ein Hirngespinst?
Wer Antworten auf diese Fragen sucht, stößt auf eine Geschichte, die Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückreicht. Sie handelt von Elektronen und ihren vertrackten Antiteilchen, den Positronen, von Darmstädter und Frankfurter Physikern, von Attila Krasznahorkay und seinem niederländischen Kollegen Fokke de Boer. Vor allem aber handelt sie vom Sog einer großen Entdeckung – und der Grenze zwischen Wunschdenken und wissenschaftlicher Realität sowie der Frage, wann man sie überschritten hat.
Teilchen und KräfteDie Welt besteht aus vielen verschiedenen Bausteinen. Was X17 damit zu tun haben könnte, ist hier kurz erklärt.
KAPITEL I: Spur in eine andere Welt
Welt der Elementarteilchen
Welt der Elementarteilchen
In dieser Welt sehen Physiker zwei große Elementarteilchen-Sippen am Werk. Zum einen sind da die Bausteine, aus denen die Materie um uns herum besteht. Zu ihr zählen die Quarks, die im Innersten von Atomkernen durcheinanderwabern, und – viel weiter draußen – die Elektronen.
Gäbe es nur Quarks und Elektronen, wäre das Universum statisch. Eine Welt aus Myriaden winziger Legosteinchen, in der sich nichts bewegt. Denn wie soll ein Elektron merken, dass ein anderes Teilchen in der Nähe ist?
Hier tritt die andere Sippe aufs Parkett, die Botenteilchen oder »Bosonen«. Im Weltbild der Teilchenphysik übermitteln sie die Kräfte zwischen den Partikeln. Begegnen sich zwei Elektronen, tauschen sie blitzschnell ein Boson aus.
Vier Grundkräfte
Vier Grundkräfte
Mit diesem Baukasten aus Teilchen und Kräften können Physiker fast alle Phänomene auf der Erde erklären. Sie können damit berechnen, weshalb die Sonne scheint und warum Atomkerne zerfallen. Doch der Plan für den Mikrokosmos ist vermutlich nicht vollständig: Wenn Astronomen weit ins Weltall hinausblicken, in die Zwischenräume von Galaxien, sehen sie Spuren einer Welt, die aus anderen Teilchen zu bestehen scheint und in der womöglich andere Kräfte wirken. Die Forscher sprechen von Dunkler Materie – und wissen bisher nicht einmal ansatzweise, was sich dahinter verbirgt.
X17 könnte ein erster Vorgeschmack auf dieses unsichtbare Reich sein, glauben manche Wissenschaftler. Auf der Erde würde das neue Botenteilchen nur im Verborgenen agieren: im unmittelbaren Umfeld von Atomkernen und auf eine Weise, die man noch nicht versteht. Aber in den Weiten des Kosmos könnte das Phantom eine größere Rolle spielen. Womöglich flitzt es dort ständig zwischen Teilchen der Dunklen Materie hin und her – wenn es denn wirklich existiert.
Das Atomki-Forschungsinstitut heute
Das Atomki-Forschungsinstitut heute
Attila Krasznahorkay kommt zur Begrüßung nach draußen. Er ist ein großer Mann mit schwerem Gang, in Cordjacket und blauem Wollpulli, rot im Gesicht vom Herbeieilen. Zielstrebig führt er auf eines der Gebäude zu. Es geht durch eine staubige Werkstatt, in der es nach verschmortem Gummi riecht – in die Halle, in der sie nach X17 suchen.
Dort glänzen Röhren, Flansche und Vakuumpumpen im Kunstlicht von Halogenlampen. 2015 hat das AtomkiInstitut hier einen neuen Teilchenbeschleuniger in Betrieb genommen, möglich machten es Gelder der EU, der ungarischen Akademie der Wissenschaften und des örtlichen Atomkraftwerks.
Krasznahorkay läuft die rund 20 Meter lange Vakuumröhre der Maschine ab, vorbei an Magneten, die die beschleunigten Atomkerne auf der Bahn halten, in die ferne Ecke der Halle. Dort steht das Messgerät der X17Jäger: sechs armlange Speichen aus schwarzem Plastik, zigfach verkabelt und bedeckt von grauem Klebeband. »Weil es so viel Kritik an unserer Messung gab, haben wir kürzlich alle Teile durch neue ersetzt«, erzählt Krasznahorkay.
Auf dem Gelände des ungarischen Forschungsinstituts steht ein moderner Teilchenbeschleuniger. Doch es gibt auch Werkstätten und Büros aus Sowjetzeiten.
Debrecen Dia-Show
Konservierte Vergangenheit
Konservierte Vergangenheit
Und dann ist da der Mann mit Halbglatze, weißblondem Haar und weißer Hose, der freundlich in die Kamera blickt. Auf mehreren Fotos steht er in der Mitte der Gruppe. Krasznahorkay bleibt neben einem dieser Bilder stehen und deutet auf einen daneben angepinnten Nachruf. »Fokke de Boer ist 2010 gestorben. Wir machen in Erinnerung an ihn weiter.«
Der Niederländer, der Krasznahorkay im Jahr 2000 zur Suche nach dem Phantomteilchen überredete, ist so etwas wie die Schlüsselfigur des Projekts. Denn wegen de Boer schwebt über den Messungen in Debrecen nicht nur die Frage, ob die Ungarn ihr Equipment im Griff haben. Es geht auch darum, ob sich Krasznahorkay und sein Team von der eigenwilligen Arbeitsweise ihres Amsterdamer Kollegen emanzipiert haben.
KAPITEL II: Viele Anomalien, keine Erklärung
Fokke de Boer
Fokke de Boer
Für de Boer begann der Traum von einem neuen Teilchen bereits Mitte der 1980er Jahre, mit Messdaten aus Darmstadt. An einem 120 Meter langen Teilchenbeschleuniger namens UNILAC feuerten Forscher damals Atomkerne aufeinander.
Bei den Minikarambolagen verwandelte sich Bewegungsenergie in Masse, getreu Einsteins berühmter Formel E = mc². Konkret bedeutete das: Die Atomkerne zerplatzten und ließen einen ganzen Schwall anderer Partikel entstehen. Unter anderem mit zwei Detektoren namens EPOS und ORANGE sichteten die Darmstädter diese Trümmer. Dabei stießen sie auf eine rätselhafte Anomalie: In den Atomkern-Kollisionen tauchten bei manchen Energien des Beschleunigers überraschend viele Positronen auf.
Im Mikrokosmos sind die positiv geladenen Antiteilchen der Elektronen eigentlich nichts Ungewöhnliches. Wenn die Natur überschüssige Energie loswerden will, ruft sie manchmal ein Elektron-Positron-Paar ins Leben. Doch auch ein bisher unbekanntes Elementarteilchen, das nach kurzer Flugstrecke in ein Elektron und ein Positron zerfällt, könne die Messdaten erklären, meinten manche Physiker.
Ob solch ein neues Teilchen tatsächlich hinter der Darmstädter Anomalie steckte, blieb fürs Erste unklar. Aber über Jahre hinweg waren die »EPOS Peaks« ein Thema, das Experten weltweit beschäftigte. Mancher Forscher wähnte sich ihretwegen auf dem Weg zum Nobelpreis. Nur wenige ahnten, dass die Sache zu einer großen Enttäuschung werden würde.
Auf den Spuren von Paul Dirac
Auf den Spuren von Paul Dirac
»Fokke hatte immer viele Ideen«, erinnert sich sein Kollege Johan van Klinken, wenn man ihn heute in den Niederlanden anruft. 35 Jahre lang hat van Klinken mit de Boer zusammengearbeitet, ihn auf allen Etappen seines Wegs begleitet, ihm bis zum Ende hin unterstützt. Seinen Freund habe ein besonderer Sinn für Ästhetik angetrieben, sagt van Klinken. Eines von de Boers Vorbilder war der britische Nobelpreisträger Paul Dirac: Ein genialer Eigenbrötler, der 1928 die Existenz von Positronen vorhergesagt hatte und elegante Formeln für wahrer hielt als unhandliche.
De Boer übertrug diese Philosophie auf das sperrige Metier der Kernphysik: Wo andere bloß ein Schema denkbarer Zerfälle eines Atomkerns sahen, ein Wirrwarr aus Linien, Zahlen und Pfeilen, erblickte er die Schönheit der Schöpfung. »In dieser Hinsicht war er wie ein Künstler«, sagt van Klinken.
Angetan hatten es de Boer nicht nur die Darmstädter Daten, sondern auch Ergebnisse aus Kairo, von denen er um das Jahr 1984 erfuhr. Auch dort wichen Positronen aus Atomkernkarambolagen von den Erwartungen ab. Und de Boer hatte eine Idee, wie man diese Spur weiter verfolgen konnte.
Angeregte Atomkerne
Angeregte Atomkerne
Welche das sind, lässt sich nur mit technischer Finesse klären. Eine Möglichkeit ist eine sanfte Variante der Karambolagen, die an großen Teilchenbeschleunigern stattfinden. Physiker beschießen dabei ruhende Materie mit einem Strahl aus Protonen, die sie mit Hilfe elektrischer Felder in Schwung gebracht haben. Haben die Partikel genau das richtige Maß an Bewegungsenergie, zerplatzen gerammte Kerne nicht etwa. Sie nehmen stattdessen eines der Protonen auf, wachsen dadurch etwas und beginnen zu zappeln.
Wenn sie sich anschließend wieder beruhigen, spucken die betroffenen Kerne ein Strahlungspaket aus. Oder, in selteneren Fällen, ein Elektron-Positron-Paar. Indem Physiker diese Absonderungen auffangen und analysieren, können sie die Energieniveaus von Atomkernen rekonstruieren.
Eigentlich war das nichts anderes als das Tagesgeschäft der Kernphysik, tausendfach umgesetzt und bis in die letzte Ecke erforscht. Doch de Boer und andere erkannten: In einer leichten Abwandlung müsste sich die Technik auch für die Suche nach einem neuen Elementarteilchen eignen. Denn das neue Boson wäre eine weitere Möglichkeit für Atomkerne, Energie abzugeben.
Der Neuling wäre dabei nicht stabil, sondern würde nach kurzer Flugzeit in ein Elektron und ein Positron zerfallen. In einem Punkt sollten sich diese Duos aber von jenen unterscheiden, die auf Strahlungsteilchen zurückgehen oder direkt vom Kern ausgestoßen werden: Sie müssten unter einem deutlich größeren Winkel auseinanderfliegen. Verfolgt man also akribisch, in welcher Richtung angeregte Atomkerne Elektronen und Positronen davonschleudern, könnte das Hinweise auf das Teilchen liefern.
KAPITEL III: Skeptische Frankfurter und ein euphorischer Niederländer
Institut für Kernphysik in Frankfurt am Main In Frankfurt am Main Institut für Kernphysik in Frankfurt am Main
Institut für Kernphysik in Frankfurt am Main In Frankfurt am Main Institut für Kernphysik in Frankfurt am Main
In Frankfurt erreichte de Boer Kurt Stiebing, einen ernsthaften und gewissenhaften Experimentalphysiker. Einige Jahre zuvor war Stiebing an den Darmstädter Messungen beteiligt gewesen. Nun war es an der Zeit für ein eigenes Positronen-Projekt. Doch als de Boer mit dem von ihm entworfenen Apparat in Frankfurt ankam, schüttelte Stiebing nur den Kopf. Unter anderem hatte der Niederländer falsch berechnet, wie der Detektor auf Signale reagierte.
Auch war der schwenkbare Aufbau, der de Boer vorschwebte, viel zu fehleranfällig. Also machten sich Stiebing und sein Doktorand Oliver Fröhlich daran, ein besseres Gerät zu bauen. Es bestand aus acht fest installierten Teilchendetektoren, die wie die Speichen eines Rads in alle Richtungen zeigten – ein Konzept, mit dem Attila Krasznahorkay in leicht abgewandelter Form 25 Jahre später noch arbeiten wird.
Streit um die Ergebnisse
Streit um die Ergebnisse
Wenn man Kurt Stiebing heute anruft, wird er noch deutlicher. »Ich bin erstaunt, dass jemand noch immer mit meinem Detektorentwurf arbeitet«, sagt er mit Blick auf die Messungen in Debrecen. Denn schon damals, in Frankfurt, sei klar gewesen, wie heikel Experimente mit Positronen waren. »Man musste wahnsinnig viele Fehlerquellen beachten.« Selbst wenn man jahrelang weiter Daten genommen hätte, wäre die Sache unklar geblieben.
Da war nicht nur die Schwierigkeit, das seltene Zerfallssignal des neuen Teilchens von Elektron-PositronPaaren aus anderen Quellen zu unterscheiden. Diese fliegen manchmal ebenfalls unter einem großen Winkel auseinander. So will es die Quantenphysik, in der selbst unwahrscheinliche Ereignisse gelegentlich stattfinden. Hinzu kam das allgegenwärtige Störfeuer des Mikrokosmos: Teilchen aus anderen Zerfällen, Querschläger aus benachbarten Kollisionen, Partikel der kosmischen Strahlung – ein Albtraum für jeden Experimentalphysiker.
Letztlich einigte sich das niederländischdeutsche Team auf eine Interpretation zwischen dem Optimismus de Boers und der Skepsis der Deutschen. Fröhlich nahm einen Job in der Industrie an, Stiebing schlug eine andere Forschungsrichtung ein. »Ich wollte nicht etwas nachjagen, was man mit verfügbaren Instrumenten nicht entdecken konnte«, sagt er rückblickend. »Mich hat die Sache irgendwann gelangweilt.«
Eine Anomalie verschwindet
Eine Anomalie verschwindet
Was folgte, war eine Zeitenwende: Viele Experten wechselten zu größeren Beschleunigern, die Kerne mit so viel Wucht zertrümmern, dass selbst ihre kleinsten Bestandteile sichtbar werden. Aus Kernphysikern wurden Teilchenphysiker. Messungen, bei denen es vorrangig um ganze Atomkerne und Positronen ging, kamen aus der Mode – und stießen bei vielen Forschern fortan auf Vorbehalte.
Doch Fokke de Boer ließ sich nicht unterkriegen. Immer wieder veröffentlichte er Fachaufsätze mit kreativen Deutungen der Frankfurter Daten. »Da ist was, da ist was«, sagte er zu Kollegen. Als feststand, dass die Versuche am Main nicht weitergingen, rief er im Frühjahr 2000 Attila Krasznahorkay an, der zu dieser Zeit in Japan forschte. In Debrecen, der Heimatstadt des Ungarn, gab es ebenfalls einen geeigneten Teilchenbeschleuniger.
Krasznahorkay hatte sich damals bereits einen Ruf als fähiger Experimentator erarbeitet, auf dem seit langem bearbeiteten Gebiet der »Riesenresonanzen« bei Atomkernkollisionen. De Boers Anruf stellte hingegen ein exotisches Thema in Aussicht, ein kleines Forschungsabenteuer. Und so sagte Krasznahorkay nach kurzer Bedenkzeit zu. Bald darauf brachte Kurt Stiebing sein Winkelmessgerät nach Ungarn. Die Jagd ging also weiter - zunächst mit vielversprechenden Ergebnissen.
KAPITEL IV: Debrecen
Das neue Jahrtausend
Das neue Jahrtausend
Für de Boer war die Arbeit in Debrecen ein Kraftakt. Wochenweise reiste er aus den Niederlanden an, wo seine Lebensgefährtin mit der gemeinsamen Tochter lebte. Manchmal legten er und sein Freund Johan van Klinken die 1600 Kilometer im Auto zurück. Einen festen Job hatte de Boer zu dieser Zeit nicht: Eine Einstellungsklage an seinem Amsterdamer Heimatinstitut war zuvor gescheitert.
Dennoch sah sich der Niederländer auf einem guten Weg. Nachdem er eine Weile über den Ergebnissen aus Frankfurt und Debrecen gebrütet hatte, meinte er diese mit sage und schreibe acht neuartigen Bosonen erklären zu können. Es kam zum Streit: Wie schon Kurt Stiebing blickte Attila Krasznahorkay kritisch auf de Boers Auslegung der Daten. Aus seiner Sicht taugten diese nicht einmal als Indiz für ein einziges neues Teilchen – woraufhin das Verhältnis zwischen beiden deutlich abkühlte.
De Boers Erbe
De Boers Erbe
Attila Krasznahorkay reiste nicht zur Beerdigung nach Amsterdam. Aber er hängte ein großes Poster im Flur des Atomki-Instituts in Debrecen auf, in Erinnerung an »unseren unvergesslichen Freund und Kollegen«. Auch in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2015 werden er und sein Team de Boer überschwänglich danken: »Wir stehen zutiefst in seiner Schuld.«
Es fällt nicht leicht, dies mit den heutigen Schilderungen des Ungarn in Einklang zu bringen. Sie lassen insgesamt wenig Gutes an de Boer. »Er war ein Träumer und hat sich sehr eigenartig verhalten«, sagt Krasznahorkay etwa.
Doch weshalb haben er und sein Team dann all die Jahre mit dem Holländer zusammengearbeitet und ihn nach seinem Tod immer wieder gewürdigt? Und warum hat Krasznahorkay 2006 und 2008 gemeinsam mit de Boer Konferenzberichte veröffentlicht, in denen sie Messdaten aus Debrecen mit einem neuen Boson erklären?
Geister der Vergangenheit
Geister der Vergangenheit
Wer den gutmütigen Ungarn einmal erlebt hat, ist geneigt, ihm diese Version der Geschichte abzunehmen. Andererseits wirft seine Erzählung Fragen auf. De Boers Vertrauter Johan van Klinken erinnert sich etwa an eine Phase, in der Krasznahorkay ebenfalls hinter der TeilchenDeutung gestanden habe, nicht nur aus Mitleid, sondern aus Überzeugung. Versucht sich Krasznahorkay also nach träglich von seinem umstrittenen Kollegen zu distanzieren, um die Glaubwürdigkeit seiner Gruppe zu retten? Der Ungar bestreitet das: »Es gab diese Distanz schon immer.«
Unklar bleibt derweil, wieso das Team nach de Boers Tod nirgendwo öffentlich aufgearbeitet hat, was bei den Experimenten damals schiefgelaufen ist. In der Wissenschaft gehört solch eine Korrektur vergangener Fehler zum guten Ton. Dass dieser Schritt bei den Messungen aus den Nullerjahren ausgeblieben ist, hat der Gruppe viel Kritik eingebracht. Krasznahorkay rechtfertigt das rückblickend mit Zeitmangel: Die Bosonen-Suche sei nur ein Nebenprojekt gewesen, und für sein Vorankommen in der Wissenschaft habe er dringend andere Publikationen schreiben müssen.
Die Jagd geht weiter
Die Jagd geht weiter
Als Krasznahorkay diese Daten 2012 bei einer Konferenz in Italien vorstellte, überraschte ihn das Interesse der internationalen Forschergemeinschaft. Sie diskutierte zu dieser Zeit über »dunkle Photonen« als möglichen Bestandteil der Dunklen Materie. Das neue Boson, auf das die Messungen der Ungarn hindeuteten, schien zu diesem Steckbrief zu passen.
In den folgenden Jahren trat das Signal in Debrecen dann deutlicher hervor, wohl auch weil die Gruppe ein neues, viel empfindlicheres Messgerät nutzte. Waren überschüssige Elektron-Positron-Paare früher noch bei allen möglichen Winkeln aufgetaucht, häuften sie sich nun bei 140 Grad, als auffällige Beule in dem Diagramm mit Messwerten. Damit änderte sich jedoch erneut die Masse des mutmaßlichen Teilchens. Statt 13,5 MeV schienen es eher 17 MeV zu sein – X17 war geboren. »Die Daten haben damals schon gestimmt, aber unsere Interpretation war anfangs nicht ganz korrekt«, sagt Krasznahorkay.
2016 akzeptierten die »Physical Review Letters« den Aufsatz zur Veröffentlichung, das prestigeträchtigste aller Physiker-Journals. Und bald darauf lieferte ein Team um Forscher der University of California in Irvine eine Interpretation, die bei Teilchenphysikern weltweit große Beachtung fand: X17 könnte ein höchst wählerisches Boson sein, das nur auf die Neutronen in Atomkernen reagiert. Protonen hingegen würden das neue Teilchen komplett kaltlassen.
Ein sehr wählerisches Teilchen
Ein sehr wählerisches Teilchen
Dass X-17 so wählerisch sein müsste, hat dabei einen einfachen Grund. Nur auf diese Weise lässt sich seine Existenz mit anderen Messungen in Einklang bringen. Forscher haben im Lauf der Jahre immer wieder mit großen Teilchenbeschleunigern nach neuen Partikeln gesucht.
Eigentlich müsste X17 auch dort entstanden sein, durch die in den Kollisionen freigesetzte Energie – zumindest, wenn es wirklich einen Platz im Baukasten der Natur hat. Aber wenn dem so ist, hat es keine Spuren hinterlassen, weder in dem für solch eine Suche geeigneten CERNDetektor NA64 noch im BESIII-Spektrometer in China.
Was nicht heißen muss, dass es das Teilchen nicht gibt. Im Trümmerfeld zerplatzender Atomkerne ließe sich X17 womöglich bloß dann entdecken, wenn man genauer hinschauen würde als bisher, sagen manche Physiker. Vielleicht hat das neue Teilchen noch unbekannte Eigenschaften, die erklären, wieso es in Attila Krasznahorkays Experiment auftaucht, aber nirgendwo sonst.
Eine neue Spur
Eine neue Spur
»Sicherlich zehn Labore weltweit könnten das Atomki-Experiment nachvollziehen«, sagt etwa Andreas Zilges von der Universität zu Köln. »Wir selbst könnten es hier im Keller unseres Instituts wohl binnen eines halben Jahrs machen.« Doch er und viele seiner Kollegen glaubten schlicht nicht daran, dass die Ungarn einem echten Phänomen auf der Spur sind – entsprechend habe sich lange Zeit niemand die Mühe gemacht.
Dabei ist es nicht so, dass Forscher wie Zilges der Gruppe aus Osteuropa grundsätzlich misstrauen. Er halte Krasznahorkay und sein Team für integer und kompetent. Eine Einschätzung, die auch andere Experten teilen, mit denen »Spektrum« für diesen Artikel gesprochen hat. »Das heißt aber nicht, dass man automatisch vor Fehlern gefeit ist«, sagt Zilges. Zumal das Experiment, das man sich da vorgenommen habe, einfach enorm knifflig sei.
Bis heute kämpfen Krasznahorkay und sein Team mit denselben Problemen, die schon Kurt Stiebing vor 25 Jahren in Frankfurt hatte: Es ist sehr schwer, die Spuren des mutmaßlichen Teilchens sauber aus dem Chaos des Mikrokosmos herauszufiltern. Man kann immer nur schätzen, wie viele Elektronen und Positronen dort umherflitzen und wie ein Detektor auf sie reagiert. Die Forscher verlassen sich hierzu auf eine CERN-Software namens GEANT. Weichen die darin getroffenen Annahmen nur leicht von der Realität ab, verfälscht das die Datenauswertung.
Krasznahorkay sagt, er und sein Team hätten in den vergangenen Jahren viel Zeit investiert, um diese und andere mögliche Fehlerquellen auszuschließen. An den Daten habe sich dadurch nichts geändert. Im Gegenteil, die Fährte tritt nun deutlicher denn je hervor: Auch bei angeregten Heliumatomkernen fliegen Elektronen und Positronen etwas häufiger unter großen Winkeln auseinander als erwartet, berichteten sie im Herbst 2019. Diesmal haben die »Physical Review Letters« jedoch ausführliche Nachbesserungen erbeten und den Fachaufsatz letztlich abgelehnt.
EPILOG: Ende und Anfang
Neue Hoffnung
Neue Hoffnung
Attila Krasznahorkay hat die Bosonenjagd derweil zu einer kleinen Berühmtheit gemacht. Er ist im ungarischen Fernsehen aufgetreten und Ende 2019 hat ihn die Stadt Debrecen sogar zur Person des Jahres gekürt. Sein Highlight war indes ein Vortrag in Budapest vor hunderten Schülern. »Es ist sehr schwer für uns, Nachwuchs zu finden«, seufzt er. »Die jungen Leute wollen hier zu Lande lieber in der freien Wirtschaft arbeiten.«
Zum Abschluss des Besuchs führt der ungarische Physiker noch einmal durch die Versuchshalle des Atomki-Instituts. Es ist mittlerweile früher Abend, das Surren der Vakuumpumpen ist verstummt, ein Techniker macht bereits die Lichter aus. Krasznahorkay bleibt vor dem Messgerät seiner Gruppe stehen und legt sanft seine Hand darauf. Haben er und sein Team wirklich schon alles probiert? Der groß gewachsene Physiker denkt kurz nach. »Es gibt schon noch ein paar Sachen, die wir testen wollen«, sagt er schließlich. »Im Grunde sind wir erst am Anfang.«
Zwei mögliche Enden
Zwei mögliche Enden
Wahrscheinlicher ist wohl ein anderer Ausgang: Wenn kein anderes Labor X17 aufspüren kann, wird es zu einer Randnotiz in der Geschichte der Teilchenphysik werden. Eine weitere falsche Fährte, bei der optimistische Forscher zu viel in Messergebnisse hineininterpretiert haben. Attila Krasznahorkay wird in diesem Szenario sicherlich einsehen, dass er einen Fehler gemacht hat, und sich einer anderen Frage aus der Kernphysik zuwenden. »Ich will mich nicht auf eine Sache versteifen und am Ende dafür leiden, so wie Fokke«, sagt er. ■
Credits
Bilder Debrecen: Miklós Vargha
Layout: Marc Grove
Redaktion: Hartwig Hanser/Alina Schadwinkel
Technik: Dennis Dirdjaja
Text: Robert Gast
Video: Sandra Andres