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GRAPHENTHEORIE

Mathematik einer Südseetradition

Die Sandzeichnungen des südpazifischen Archipels gehören zum immateriellen Weltkulturerbe. Das traditionelle Zeichnen folgt dabei strengen Regeln, die man auch in der Mathematik findet.

von Alban Da Silva

Alban Da Silva ist Ethnomathematiker, Historiker und Wissenschaftsphilosoph am der Université Paris Cité sowie Lehrer für Vorbereitungsklassen in Neukaledonien.

Oktober 2015, Port Vila: Mein Aufenthalt zur Schulung von Mathematiklehrkräften am französischen Gymnasium in der Hauptstadt Vanuatus neigte sich dem Ende zu. Der Schulleiter lud mich zu einer Kava-Zeremonie ein, dem traditionellen Getränk des Archipels. Das gemeinsame Trinken von Kava bietet eine ideale Gelegenheit zum Austausch: Es wird aus den Wurzeln des Rauschpfeffers hergestellt und hat eine entspannende Wirkung, die das Sprechen fördert.

Bei meiner ersten Begegnung mit Kava wurde ich auch erstmals Zeuge des »Sandzeichnens«. Im Laufe des Abends brachte jemand ein großes Brett mit feinem Sand. Nachdem die Oberfläche sorgfältig geglättet worden war, begann der Zeichner, mit dem Finger ein Gitter aus waagerechten und senkrechten Linien zu skizzieren. Auf dieser Grundlage malte er, ohne den Finger anzuheben, ein Muster. Am Ende kommentierte er in Bislama (einer der Sprachen Vanuatus): »Hemia hem i wan fis i ronwe i stap unda stone from i kat wan sak« (das ist ein Fisch, der sich unter einem Stein vor dem Hai versteckt).

Die fließenden Linien, gemischt mit der Wirkung von Kava, versetzten mich in einen Zustand der Faszination und des Staunens. Die Technik erinnerte mich sofort an die Rätsel, bei denen man eine vorgegebene Figur in einem Zug zeichnen soll, ohne zweimal dieselbe Linie zu durchlaufen – wie beim Haus vom Nikolaus, nur sehr viel anspruchsvoller. Dieses Prinzip hängt mit dem mathematischen Konzept des »eulerschen Graphen« zusammen.

Während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, kam jemand auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr: »Nun, Herr Professor, wo ist die Mathematik in dieser Zeichnung?« Ohne dass die Person es ahnte, hat sie damit die nächsten sechs Jahre meines Lebens geprägt, in denen ich eine Doktorarbeit über Sandzeichnungen verfasste.

Bevor eine Person eine Sandzeichnung anfertigt, skizziert sie ein Raster – meist rechteckig, manchmal aber auch kreisförmig – wie dieses, das als Grundlage für das Muster »Skul blo fis« (Schule der Fische) dient.

  • Bild: Alban Da Silva



138 Sprachen auf 83 Inseln

Meine Forschungen gingen viel weiter, als ich erwartet hatte. Ich beobachtete die Einheimischen bei ihren rituellen Zeichnungen, befragte sie zu ihrer Vorgehensweise, sammelte vor Ort zahlreiche Muster und ihre Geschichte und studierte auch die Arbeiten von Ethnologen des 20. Jahrhunderts, die bereits von diesen Darstellungen fasziniert waren. Das ermöglichte es mir, ein mathematisches Modell der Sandzeichnungen zu entwickeln, das die Entstehung der Werke genau nachvollzieht.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Diagramme von Datawrapper angezeigt werden.

Mit Hilfe des Modells konnte ich zeigen, dass der Zeichenprozess einem mathematischen Ansatz ähnelt: Die beeindruckenden Muster sind das Ergebnis von Algorithmen und algebraischen Operationen. Das abstrakte Fach ist also geeignet, um die Tradition der Einheimischen zu beschreiben. Mehr noch: Die Mathematik erklärt, wie die Zeichenabläufe die Beziehung der Gesellschaft Vanuatus zu ihrer Umwelt widerspiegeln.

Vanuatu ist ein Archipel mit rund 315000 Einwohnern, die auf 83 Inseln leben. Mit 138 verschiedenen Sprachen hat das Land die höchste Sprachendichte der Welt. Die beiden Amtssprachen sind Französisch und Englisch, doch die meisten Personen verständigen sich untereinander auf Bislama. Dies führt zu sehr unterschiedlichen kulturellen Gegebenheiten im Norden und Süden des Landes – teilweise sogar auf ein und derselben Insel.

Die Sandzeichnungen sind nur auf einigen der zentralen Inseln verbreitet. Sie erinnern ein wenig an »Kolams«: symmetrische Muster, die manche Frauen in Südindien mit Reis im Eingangsbereich ihres Hauses auf dem Boden anfertigen. Die Sandzeichnungen Vanuatus weisen jedoch einzigartige Merkmale auf, die die UNESCO 2008 veranlasst haben, sie zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit zu erklären.

Die Inselgruppe Vanuatu (bis 1980 Neue Hebriden genannt) ist das Land mit der größten Sprachendichte der Welt, insgesamt sind es über 100. Die Sandzeichnungen werden auf den zentralen Inseln praktiziert.

  • Bild: christywarnick / Getty Images / iStock



Meine Doktorarbeit zu diesem Thema stützt sich auf zwei Feldforschungen, die ich 2018 auf Maewo und 2019 auf der Pentecost-Insel durchgeführt habe. Die beiden Inseln bilden zusammen mit Ambae die Provinz Penama und sind durch gemeinsame Mythen miteinander ver­bunden.

Sandzeichnungen werden wahrscheinlich schon seit Jahrtausenden angefertigt. Auf Bislama heißt diese Tätigkeit »sandroing«. Traditionell zeichnet man mit dem Finger in den Lehmboden (in den Dörfern), in den Sand (an den Stränden) oder in Asche eine glatte, geschlossene Kurve, die durch ein Raster von Linien oder Punkten begrenzt wird.

Es gibt ikonische Zeichnungen von Tieren, Insekten oder Pflanzen, aber einige Sandroings sind eng mit den Mythen, Weltanschauungen, der sozialen Organisation oder den Traditionen dieser Gesellschaften verbunden. Die Muster dienen auch als Grundlage für Erzählungen mit ethischen oder politischen Aspekten. Oft tragen die Zeichnungen einen volkstümlichen Namen, der sich auf die unterschiedlichen Perspektiven bezieht.

Diese Zeichnung erinnert an einen Fisch, der sich unter einem Stein vor einem Raubtier verbirgt.

  • Bild: Alban Da Silva

Es ist schwer zu sagen, wie viele verschiedene Muster aktuell gezeichnet werden – es gibt keinen Katalog oder Ähnliches. Sicher ist jedoch, dass neue Zeichnungen entstehen, während andere verschwinden. In den Gesellschaften Vanuatus sind die Sandzeichnungen als geistiges Eigentum geschützt, was den Zugang zu dieser Tradition manchmal erschwert.

Heute wird die Praxis als traditionelle Kunst angesehen, die mit der Erinnerung an rituelles, mythologisches und umweltbezogenes Wissen verbunden ist. Um die Bedeutung der Sandzeichnungen für die Bevölkerung zu verstehen, sind die Worte des Stammesführers Jief Todali, den ich in der Raga-Region traf, aufschlussreich: »Vor der Ankunft der Tuturani (weiße Fremde) konnten die Menschen nördlich von Pentecost nicht sprechen. Sie drückten sich durch Zeichnungen aus, die sie mit ihren Fingern auf den Boden malten. Statt der Menschen sprachen die Felsen, die Steine, der Boden der Hügel und Täler, der Wind, der Regen und das Wasser des Meeres. Aber jetzt ist die Situation umgekehrt, die Menschen sprechen, und die Erde, der Wind, der Regen und das Meerwasser sind verstummt. Jetzt sagen die Sia-Raga-Leute manchmal: ›Wir müssen für die Erde sprechen, denn sie kann nicht mehr für sich selbst sprechen‹«.

Wir müssen für die Erde sprechen, denn sie kann nicht mehr für sich selbst sprechen

Diese Art der vergänglichen Kunst – die Zeichnungen werden nach ihrer Fertigstellung weggewischt – regt zum Erzählen an. Die Einheimischen geben während des Zeichnens manchmal einen Mythos oder Märchen wieder. Oft appellieren sie auch an die Vorstellungskraft der Zuhörer, indem sie im Sand Details andeuten, die mit ihrer Geschichte zu tun haben, etwa Orte, Menschen oder Tiere.

Bis zu 400 verschiedene Muster

Bei der Ausübung der rituellen Praxis findet man unterschiedliche Niveaus vor. Manche Personen versuchen sich gar nicht erst darin, andere können ein paar einfache Zeichnungen anfertigen, während die Expertinnen und Experten – so werden sie von den Mitgliedern der Gesellschaft genannt – über ein beeindruckendes Repertoire verfügen: Einige beherrschen bis zu 400 verschiedene Muster. In den ersten Beschreibungen wurde diese Kunst noch als männliche Domäne bezeichnet, aber das scheint heute nicht mehr der Fall zu sein. Einige Frauen, die ich getroffen habe, verfügten über ein hohes Maß an Kunstfertigkeit.

Doch egal, ob Anfänger oder Expertin: Alle halten sich beim Zeichnen an ein paar klare Regeln. Da das Wissen auf Vanuatu meist mündlich überliefert wird, gibt es davon allerdings keine schriftlichen Aufzeichnungen. Während meiner Feldforschung habe ich einige Prinzipien zusammengetragen, die fast alle Zeichnenden befolgen.

Die Zeichnerin Lala fertigte 2018 an einem Strand im Dorf Naoné im Norden der Insel Maewo diese Zeichnung an. Sie trägt den Namen »Mat« und bezieht sich auf die Technik des Mattenflechtens.

  • Video: Alban Da Silva

Ritchie fertigt eine Zeichnung namens Aurora (volkstümlicher Name der Insel Maewo) an, die einen Kreis enthält, der das Gitter (das aus einem Quadrat besteht) umgibt.

  • Video: Alban Da Silva



Zunächst beginnen sie mit einem Raster aus Punkten und Geraden, das die Grundlage für das Muster bildet. Sieben Regeln legen dann fest, welche Fingerbewegungen erlaubt sind: Unter anderem darf man sich immer nur von Punkt zu Punkt vorarbeiten und dabei jeden Weg nur einmal durchlaufen. Zudem sollte der Finger unterwegs nicht angehoben werden und muss am Ende wieder zum Startpunkt zurückkehren.

Irgendwie erinnerte mich all das an Mathematik. Aber was genau haben die Sandzeichnungen mit dem abstrakten Fach zu tun? Ich war nicht der Erste, der sich diese Frage stellte.

Seit etwa 80 Jahren untersuchen Fachleute, wie sich die mathematischen Konzepte verschiedener Kulturen unterscheiden – insbesondere das Wissen, das sich außerhalb des akademischen Umfelds entwickelt hat. Früher sahen sie die Schrift als notwendige Voraussetzung für die Ausübung von Mathematik an. Deswegen stützten sie ihre Erkenntnisse meist nur auf Textquellen. Die »mündlich überlieferten« mathematischen Inhalte wurden auf einfache Berechnungen, geometrische Aspekte und prozedurale Handlungen wie das Flechten oder Weben reduziert. 

Doch seit dem Aufkommen der Ethnomathematik hat sich diese Haltung geändert. Der Wandel begann in den 1940er Jahren, als der Mathematiker André Weil in einem inzwischen berühmten Anhang zu dem Buch »The Elementary Structures of Kinship« des Anthropologen Claude Lévi-Strauss nachwies, dass die Verwandtschaftsregeln des australischen Aborigines-Stamm Yolngu den abstrakten Regeln der Gruppentheorie folgen. Seither haben mehrere Arbeiten unser Verständnis über die Mathematikkenntnisse außerhalb des akademischen Bereichs erweitert. So finden sich mathematische Inhalte in Wahrsageritualen und Brettspielen aus Madagaskar, Fadenspielen aus Trobriand (einer Inselgruppe vor Papua-Neuguinea), Webtechniken aus den Anden und in Ornamenten auf der französischen Insel La Réunion. 



Die Regeln des Sandzeichnens

Beim Sandzeichnen dient das vorgefertigte Raster als Grundgerüst. Die Einheimischen bezeichnen die Geraden durch Begriffe für lange Holzpfähle, aus denen die Wände der dortigen Hütten bestehen. Die Schnittpunkte der Geraden heißen »joen paen« (Verbindungspunkt). Die Raster haben verschiedene Formen und Größen: Rechtecke, Zusammensetzungen von Rechtecken, konzentrische Kreise, manchmal mit ausgehöhlten Bereichen. Das anschließende Zeichnen folgt dann meist sieben Regeln:

  1. Die Zeichnung beginnt an einem Knoten des Rasters.
  2. Der Finger sollte während des Zeichnens nicht angehoben werden. Es kommt aber vor, dass die Zeichnenden ihr Werk kurz unterbrechen, um nachzudenken.
  3. Das Muster darf die Knoten des Rasters nur entlang einer von zwei Diagonalen durchlaufen. Ein Knoten kann mehrmals gekreuzt werden.
  4. Der Pfad trifft das Raster nur an den Knoten.
  5. Bis auf Ausnahmefälle darf jede Linie nur einmal durchlaufen werden. Man kann eine bereits gezeichnete Linie jedoch kreuzen.
  6. Die Zeichnung endet an dem Punkt, von dem man gestartet ist.
  7. Die entstandene Figur hat in der Regel eine oder mehrere Symmetrieachsen.
  • Bild: Alban Da Silva
  • Bild: Alban Da Silva



Lange übersehene mathematische Fähigkeiten

Marcia Ascher (1935–2013) gilt als Begründerin der Ethnomathematik. Sie stieß das Forschungsgebiet an, als sie in den 1980er Jahren vorschlug, die mathematischen Kenntnisse schriftloser Gesellschaften zu untersuchen. So widmete sie sich auch den Sandzeichnungen von Vanuatu und versuchte, eine Verbindung zwischen dem Brauch und der Graphentheorie herzustellen. Mein Dissertationsthema ist also gewissermaßen eine Fortsetzung von Aschers Arbeit.

Allerdings war Ascher niemals direkt vor Ort tätig. Ihre Forschung stützt sich weitgehend auf das Material des Ethnographen Bernard Deacon, der zwischen 1924 und 1926 mehr als 100 Zeichnungen von den Malekula- und Ambrym-Inseln aufgezeichnet hatte.

Aschers Leitgedanke war ganz einfach. Ein Graph besteht aus Punkten, die durch Kanten verbunden sind. Genau diese Definition erfüllen auch die Muster der Inselbewohner: Die Punkte des Graphen entsprechen den Schnittpunkten der Linien, die beim Zeichnen entstehen, und die Kanten sind alle Bögen dazwischen.

Die Zeichnungen stellen aus mathematischer Sicht einen ganz besonderen Typ Graphen dar, einen so genannten eulerschen Graphen. Die Regeln für die Sandzeichnungen verlangen, dass man jeden Punkt des vorgefertigten Gitters erreicht und am Ende wieder zum Startpunkt zurückkehrt, ohne eine der Linien mehr als einmal zu durchlaufen. Das entspricht der Definition eines eulerschen Graphen.



Von der Graphentheorie zu Sandzeichnungen

Ein Graph ist eine einfache mathematische Struktur, aus der sich viele spannende Anwendungen und Theorien ergeben. Die Graphentheorie entstand ursprünglich aus mathematischen Spielereien wie dem Königsberger Brückenproblem oder der Aufgabe, einen Ausweg aus einem Labyrinth zu finden – inzwischen bildet sie aber einen wichtigen Teilbereich des komplexen Fachs Mathematik.

Begrifflichkeiten: Ein Graph setzt sich aus zwei Mengen zusammen, einer Sammlung von Objekten (Punkte oder Knoten) und einer Menge von Verbindungen (Kanten), die zwischen den Punkten verlaufen. Ein Pfad besteht aus benachbarten Kanten, die eine Art Weg durch einen Graphen darstellen. Ein Graph heißt zusammenhängend, wenn es für jedes Paar von Punkten einen Pfad gibt, der sie verbindet. Sprich: Man kann von jedem Punkt aus jeden anderen innerhalb des Graphs erreichen. Ein eulerscher Graph enthält einen Pfad, der alle Kanten genau einmal durchläuft und am Ende wieder zum Startpunkt zurückkehrt.



Das Königsberger Brückenproblem fragt, ob es möglich ist, einen Rundweg zu finden, der über alle sieben Brücken führt, ohne dass man eine davon mehrmals überquert? Nach dem Satz von Euler-Hierholzer lautet die Antwort nein, da der zugehörige Graph (rot) vier Punkte mit ungeradem Grad enthält.

  • Bild: Pour la Science August 2023



Als sich der Mathematiker Leonhard Euler im Jahr 1741 mit dem Königsberger Brückenproblem beschäftigte, fand er eine Bedingung, die Graphen erfüllen müssen, um eulersch zu sein (das gelang ihm, ohne das Konzept eines Graphen zu verwenden). Einen Beweis dafür lieferte aber erst Carl Hierholzer mehr als 140 Jahre später. Der inzwischen nach den beiden Fachleuten benannte Satz von Euler-Hierholzer besagt, dass ein zusammenhängender Graph genau dann eulersch ist, wenn alle Knoten einen geraden Grad haben. Letzteres bedeutet, dass jeder Punkt eine gerade Anzahl von Kanten besitzt. Der abgebildete Graph (weiter unten) hat beispielsweise zwei Punkte von Grad 2 und fünf von Grad 4 und ist somit eulersch.

1912 fand der US-amerikanische Mathematiker Oswald Veblen ein weiteres Merkmal eulerscher Graphen, das auf Schleifen beruht. Letzteres bezeichnet einen Pfad, der alle Punkte mit Ausnahme des Start- und Endpunktes nur einmal durchläuft. Nach dem Satz von Veblen ist ein zusammenhängender Graph genau dann eulersch, wenn er sich in nicht überlappende Schleifen zerlegen lässt. Das ist bei dem Graphen weiter unten der Fall – für diesen gibt es sogar mehrere Zerlegungen. In der Regel gestaltet sich die Suche nach möglichen Zerlegungen schwierig: Die benötigte Rechenzeit steigt exponentiell mit der Größe des Graphen an.

Der Satz von Veblen zeigt, dass Schleifen die elementaren Bausteine eines eulerschen Graphen darstellen. Zudem lässt sich aus einzelnen Schleifen schnell ein eulerscher Pfad erzeugen. In der Abbildung unten beginnt man mit der blauen Schleife, die zweimal unterbrochen wird: einmal, um die rote Schleife zu durchlaufen, dann dasselbe für die grüne.

Möchte man sich einen komplizierten Pfad merken, ist es oft einfacher, sich eine Zerlegung in Schleifen einzuprägen. Die Bevölkerung von Vanuatu scheint beim Erstellen und Merken von Sandzeichnungen genau so vorzugehen.

Beispiel für einen eulerschen Graphen: Links ist ein zusammenhängender Graph mit 7 Punkten ...

  • Bild: Pour la Science August 2023

Beispiel für einen eulerschen Graphen: Links ist ein zusammenhängender Graph mit 7 Punkten

und 12 Kanten.

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  • Bild: Pour la Science August 2023

Beispiel für einen eulerschen Graphen: Links ist ein zusammenhängender Graph mit 7 Punkten

und 12 Kanten.

Er ist eulersch, da es vom Punkt S aus einen Weg – nummeriert von 1 bis 12 – gibt, der zu S zurückführt, ohne eine Kante zweimal zu durchlaufen. 

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  • Bild: Pour la Science August 2023
  • Video: Pour la Science August 2023 / Spektrum der Wissenschaft

Ausgehend von S lässt sich ein weiterer eulerscher Pfad konstruieren, indem man den Graphen in drei Schleifen (blau, rot und grün) zerlegt.

  • Bild: Pour la Science August 2023





Der Satz von Veblen zeigt, dass Schleifen die elementaren Bausteine eines eulerschen Graphen darstellen. Zudem lässt sich aus einzelnen Schleifen schnell ein eulerscher Pfad erzeugen. In der Abbildung oben beginnt man mit der blauen Schleife, die zweimal unterbrochen wird: einmal, um die rote Schleife zu durchlaufen, dann dasselbe für die grüne.

Möchte man sich einen komplizierten Pfad merken, ist es oft einfacher, sich eine Zerlegung in Schleifen einzuprägen. Die Bevölkerung von Vanuatu scheint beim Erstellen und Merken von Sandzeichnungen genau so vorzugehen.

  • Bild: Pour la Science August 2023



Nach dieser Erkenntnis versuchte Ascher, die gesammelten Zeichnungen anhand ihrer mathematischen Eigenschaften zu kategorisieren und hoffte, so auch etwas über ihre Bedeutung zu erfahren. Dafür zählte sie die Kanten, die jeden Punkt durchlaufen – die Anzahl entspricht dem so genannten Grad eines Knotens. Aus mathematischer Sicht spielt diese Größe eine wichtige Rolle, denn ein zusammenhängender Graph ist nur dann eulersch, wenn jeder Knoten einen geraden Grad hat. Aber wie Ascher feststellen musste, offenbarte ihr Ansatz nichts über die Bedeutung der Sandzeichnung.

Die Tatsache, dass Ascher nie die Gelegenheit hatte, nach Vanuatu zu reisen und die Zeichner zu beobachten, hat ihre Forschung höchstwahrscheinlich eingeschränkt. Durch den persönlichen Austausch konnte ich viel über die Praxis erfahren – und so einen Zusammenhang zwischen dem Ritual und der Mathematik finden. Eine Entdeckung von Ascher war dabei besonders hilfreich. Bei der Durchsicht der Zeichnungen, die ihr zur Verfügung standen, hatte sie festgestellt, dass sich einige Muster in drei oder vier geschlossene Kurven zerlegen lassen, die zusammengenommen das endgültige Bild ergeben.



Die Zeichnung Bebe Ure weist eine Unterteilung in drei Kurven auf, die zusammen gesetzt die vollständige Zeichnung ergeben

  • Bild: Alban Da Silva



Indem man den gezeichneten Pfad in einzelne Rundwege aufteilt, liefern diese, wenn man sie übereinanderlegt, wieder die gesamte Zeichnung. Die Kurven warfen für mich mehrere Fragen auf: Gibt es eine Verbindung zwischen ihnen und der mathematischen Beschreibung durch Graphen? Wie sind die Rundwege miteinander verbunden? Ist die Reihenfolge wichtig? Lässt sich jede Sandzeichnung derart zerlegen? Und vor allem: Haben die einzelnen Abschnitte eine kulturelle Bedeutung?

Um diese Fragen zu beantworten, habe ich zunächst versucht, Aschers graphentheoretisches Modell zu verfeinern. Dann habe ich geprüft, ob sich die Zerlegungen mit Hilfe von Computern berechnen lassen. Die Mathematikerin hatte bereits vermutet, dass sich die Sandzeichnungen aus mehreren Grundbausteinen zusammenzusetzen, die man rotiert, verschiebt oder spiegelt und aneinanderreiht. Als ich den Erzählungen der Einheimischen beim Zeichnen lauschte, stellte ich fest, dass diese Transformationen (Rotation, Spiegelung und Verschiebung) für die Bedeutung keine Rolle spielen: Für ein und dasselbe Muster, unabhängig von der Ausrichtung auf dem Raster, wird der gleiche Begriff verwendet. Daher suchte ich nach einer anderen mathematischen Darstellung, die die Vorgehensweise besser beschreibt.

Die Bewegungsrichtung ist genauso wichtig wie die Knoten

Es waren die Zeichner selbst, die mich auf die entscheidende Idee brachten. Graphen sind nützlich, um Beziehungen (Kanten) zwischen Objekten (Punkten) darzustellen. Ascher hatte in ihrem Modell jedoch nicht die Art der Beziehungen erklärt: Indem sie die Knoten des vorgezeichneten Gitters direkt mit den Punkten eines Graphen und die Kurvenabschnitte mit den Kanten identifizierte, ignorierte sie, wie man sich von einem Punkt zum anderen bewegt.

  • Video: Pour la Science August 2023 / Spektrum der Wissenschaft

Als ich die Einheimischen befragte, stellte ich aber fest, dass die Bewegungsrichtung ebenso wichtig ist wie die Knoten selbst: Der Finger bewegt sich von Punkt zu Punkt, von einer Anfangsrichtung zu einer Endrichtung. Somit können die Knoten entlang von zwei möglichen Diagonalen durchlaufen werden. Die Knoten haben eine unterschiedliche Bedeutung, je nachdem, ob der Finger der einen oder anderen Diagonalen folgt.

Um eine Zeichnung durch einen Graphen zu modellieren, muss man also jeden Knoten des skizzierten Rasters nicht nur durch einen, sondern zwei Punkte darstellen, die für je eine Diagonale stehen. Dafür kann man die Punkte durch Kreuze markieren. So entsteht ein neuer Graph, dessen Knoten den Paaren (S, d) entsprechen, wobei d der Bewegungsrichtung entspricht und S dem eigentlichen Knoten. Dieser Graph ist ebenfalls eulersch: Jede Kante wird nur einmal durchlaufen, jeder Punkt wird gekreuzt, zudem sind Start- und Endpunkt identisch.

Da der Grad eines Knotens keine besondere Rolle für die rituelle Bedeutung der Sandzeichnungen spielt, kann man auf eine weitere Charakterisierung von eulerschen Graphen zurückgreifen, um die Zeichnungen besser zu verstehen. Der US-amerikanische Mathematiker Oswald Veblen hat 1912 erkannt, dass ein Graph genau dann eulersch ist, wenn man ihn in »disjunkte Schleifen« zerlegen kann. 

Eine Schleife bezeichnet hierbei einen geschlossenen Pfad (Start- und Endpunkt sind gleich), »disjunkt« bedeutet, dass die Schleifen keine gemeinsamen Kanten besitzen. Wie sich herausstellt, stimmen diese Schleifen mit den von Ascher beobachteten Zerlegungen in Rundwege der Sandzeichnungen überein!

Damit konnte ich mehrere meiner Fragen beantworten. Da die Sandzeichnungen eulerschen Graphen entsprechen, sind sie stets in disjunkte Schleifen zerlegbar. Es gibt also tatsächlich die von Ascher vermuteten Grundbausteine, aus denen sich die Muster zusammensetzen. 

Auch wenn der mathematische Formalismus recht abstrakt wirkt, hilft er, die rituelle Praxis besser zu ver­stehen. Ich konnte die Entstehung von insgesamt etwa 60 Sandzeichnungen beobachten, und dabei stellte sich heraus, dass die Schleifen offenbar eine wichtige Rolle spielen. 

Beispielsweise legten die Zeichnenden öfter eine Pause ein, sobald sie einen Schleife abgeschlossen hatten. Und wenn die Person gezwungen ist, einen anderen Pfad zu finden, scheint sie die Reihenfolge der Schleifen, in der sie die Muster normalerweise ausführt, neu zu ordnen. Zudem tragen einige Schleifen volkstümliche Namen, was ebenfalls darauf hindeutet, dass sie einen elementaren Baustein der Zeichnungen darstellen. Das spiegelt sich auch in den Geschichten wider, die den rituellen Prozess begleiten.

Diese Erkenntnisse zeigen, dass selbst abstrakte mathematische Konzepte ihren Weg in die Gesellschaft finden – abseits von einem akademischen Umfeld. Das eröffnet neue Perspektiven, um das Fach didaktisch zu vermitteln. Seit 2010 stellen traditionelle Fertigkeiten wie das Erstellen von Sandzeichnungen ein Bildungsziel in Vanuatu dar. Der aktuelle Lehrplan stellt jedoch keine Verbindung zwischen den Sandzeichnungen und der Mathematik her. Dabei könnte diese Verknüpfung das Verständnis des Fachs erleichtern.

QUELLEN

Da Silva, A.: Une étude ethnomathématique du dessin sur le sable du Vanuatu, Dissertation, 2022

Vandendriessche, E., Petit, C.: Des ethnologues au pays des mathématiques. Pour la Science 514, 2020

Vandendriessche, E., Da Silva, A.: Les dessins sur le sable du nord de l‘île d‘Ambrym (Vanuatu): une étude ethnomathématique, ethnographiques.org, 2022





Sandzeichnungen modellieren

Beim Zeichnen darf ein Finger die Diagonalen des vorgefertigten Rasters nur ohne plötzliche Richtungsänderung durchlaufen. Diese Regel erwies sich als entscheidend, um ein mathematisches Modell der rituellen Praxis zu erstellen. Kombiniert man sie mit dem Prinzip, wonach das Muster das Raster nur an seinen Knoten trifft, ergibt sich eine weitere Gesetzmäßigkeit.

Demnach wandert der Finger von einem Knoten zu einem anderen, mit einer Anfangs- und einer Endrichtung. Meine Forschung hat gezeigt, dass die Bewegungsrichtung aus Sicht der Zeichnenden eine ebenso große Rolle spielt wie die durchlaufenen Knoten. Um den Verlauf des Musters zu beschreiben, braucht man also drei Koordinaten (ein Tripel): zwei, um den betreffenden Knoten auf dem Raster zu benennen, und eine zusätzliche Koordinate, die der Bewegungsrichtung an dem Knoten entspricht.

Ein Zyklus, der durch vier Knoten verläuft. Der Graph, der ihn beschreibt, hat also acht Eckpunkte, einen für jedes Paar Knoten/Richtung. Im Graphen unten links wird jedes Knoten-Richtungs-Paar durch einen Scheitelpunkt und eine Farbe dargestellt, die die befahrene Diagonale wiedergibt. Wenn man den Graphen entfaltet, ist dieser ein Zyklus.

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Um die Beschreibung zu vereinfachen, habe ich die Knoten des Gitters durch eine komplexe Zahl α + iβ ausgedrückt, wobei α und β ganzen Zahlen entsprechen und i die Wurzel aus minus eins ist.

Auch die vier möglichen Richtungen (zwei Diagonalen, die jeweils in zwei Richtungen durchlaufen werden können), mit denen man die Punkte kreuzen kann, lassen sich durch komplexe Zahlen codieren: Man bezeichnet einen Weg durch 1, einen anderen durch 1⋅i = i, den dritten Weg mit 1⋅i⋅i = –1 und den übrigen durch 1⋅i⋅i⋅i = –i (siehe unten links).

Der Finger kann einen S-Knoten nur entlang einer von zwei Diagonalen (hier die blaue) durchqueren. Es sind vier Richtungen möglich, die sich durch vier komplexe Zahlen 1, i, –1, –i (oben links) darstellen lassen. Um die Bewegung zwischen zwei Knoten S und S‘ zu bestimmen, ignoriert man die genaue Form der Kurve und konzentriert sich nur auf die Punkte und die Bewegungsrichtung. (–2, 1, –i) codiert zum Beispiel oben rechts gezeigte Bewegung. Die Bewegungen hängen nicht von der gewählten Ausrichtung ab, ebensowenig wie die Tripel.

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Diese Menge {1, i, –1, –i } an möglichen Durchläufen ist in der Mathematik nicht neu: Sie wird als vierte Einheitswurzel bezeichnet, weil jede dieser Zahlen hoch vier gleich eins ergibt (1⁴ = 1, i⁴ = 1, (–1)⁴ = 1, (–i)⁴ = 1).

Um die Zeichenpraxis mathematisch zu beschreiben, habe ich die genaue Form der Kurve zwischen zwei Knoten zunächst ignoriert und nur die Positionen und Richtungen von Start- und Zielpunkt zu betrachtet.

Die Bewegung des Fingers, der eine Linie zwischen zwei Punkten zeichnet, lässt sich mathematisch so ausdrücken, dass ein Knoten mit entsprechender Richtung auf einen anderen Knoten mit dazugehöriger Richtung abgebildet wird. Die Fingerbewegung lässt sich daher durch eine Matrix beschreiben:

, wobei α und β ganze Zahlen und γ eine vierte Einheitswurzel sind.

Die abstrakte mathematische Beschreibung hat sich als sehr nützlich erwiesen. Zum Beispiel haben einige Bewegungen volkstümliche Namen, die nicht von ihrer Ausrichtung abhängen, etwa »Gai balasi« (siehe unten). Solche Muster sollten daher dem gleichen mathematischen Objekt entsprechen, auch wenn man sie um 90 Grad dreht. Das ist bei dieser mathematischen Schreibweise ebenso der Fall: Die vier Bewegungen m, r(m), (m), r³(m), wobei r die Drehung um den Winkel 90 Grad ist, werden alle durch das gleiche Tripel (α, β, γ) dargestellt.

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Wenn andererseits (S, d) und (S‘, d‘) den Knoten (S und S‘) sowie den Richtungen (d und d‘) von Start- und Zielpunkt entsprechen, verbindet sie die Formel: S‘ = S + (α + βi) d und d‘ = γ. Um das Tripel (α, β, γ) zu identifizieren, das eine Bewegung darstellt, muss man diese im speziellen Fall mit d = 1 zeichnen und S‘ als Funktion von S ausdrücken.

Außerdem lässt sich durch die Matrizen zeigen, dass die Bewegungen eine symmetrische mathematische Struktur besitzen. Sie sind Teil der »multiplikativen Gruppe«, einer Menge von Elementen, die sich wie beispielsweise die rationalen Zahlen durch Multiplikation miteinander verknüpfen lassen.

Dabei sind folgende Eigenschaften entscheidend: Wenn man zwei rationale Zahlen miteinander multipliziert, kommt stets wieder eine rationale Zahl heraus; es gibt ein neutrales Element (die 1), deren Produkt mit einer an deren Zahl wieder die Zahl selbst ergibt; zu jeder ratio­nalen Zahl (bis auf die 0) gibt es ein Inverses, so dass eine Zahl mal ihr Inverses stets 1 ergibt.

Genau diese Eigenschaften erfüllen auch die Bewegungen beim Sandzeichnen. Das Produkt zweier Bewegungen m₁ und m₂ ergibt eine neue Bewegung, deren zugehörige Matrix dem Produkt von m₁ und m₂ entspricht. Das neutrale Element ist die Bewegung, die durch das Tripel (0, 0, 1) beschrieben wird.

Neutrales Element: Jede Bewegung, die an das Triplett (0, 0, 1) gekettet wird, bleibt dadurch unverändert.

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Jede Bewegung m hat zudem ein Inverses, das heißt eine »Umkehrbewegung«, die als m ⁻¹ bezeichnet wird.



Umkehrung: Die Verkettung einer Bewegung m und ihrer Umkehrung m ⁻¹ bildet einen Schleife.

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Das lässt sich auf ganze Schleifen verallgemeinern: Eine Schleife entspricht einer Abfolge von Bewegungen m₁, m₂, ..., mₖ, wobei ihr gemeinsames Produkt das neutrale Element ergibt. Die Schleifen scheinen für Zeichner eine wichtige Rolle zu spielen, insbesondere beim Erstellen und Merken von Mustern.

Die mathematische Modellierung der rituellen Praxis hilft somit, die verschiedenen Bewegungen zu klassifizieren. Dabei scheinen die genauen Werte der Tripel (α, β, γ) nur durch die Vorstellungskraft der Zeichner, die Größe der Raster und die Zeichenregeln begrenzt zu sein.

Im Norden von Pentecost werden Schleifen als »Gagaravwe« bezeichnet. Wenn die Schleife in der oben angege­benen Richtung ausgeführt wird, codiert man sie durch das Tripel (0, 0, i).

  • Bild: Alban Da Silva

Die dargestellte Bewegung wird häufig verwendet, die Raga nennen sie »Bul tawage«. Das Tripel entsprechende Tripel (1, 0, –i), ist identisch zum Tripel, das »Gai balasi« codiert.

  • Bild: Alban Da Silva

Wenn Graphen den Schmetterling sprechen lassen

Um den Stellenwert der Sandzeichnungen in der Gesellschaft von Vanuatu zu verstehen, hilft die Zeichnung »Bebe ure«, die im nördlichen Pentecost-Gebiet auftaucht. Der Begriff »Bebe« bezeichnet in der regionalen Sprache Raga einen Schmetterling.

Die Zeichnung weist auf die zentrale Bedeutung des Schmetterlings bei der Erschaffung der Welt hin. Der Verlauf der oberen Schleife wird manchmal unterbrochen, um Platz für zwei Antennen zu schaffen.

  • Bild: Alban Da Silva

Der Stammesführer Jief Todali erklärte mir ausführlich, welchen Platz der Schmetterling in der lokalen Weltanschauung einnimmt. Demnach entstand die Pentecost-Insel, als aus dem Wasser vulkanisches Gestein auftauchte, auf dem Lumute (Moos) die erste Spur von Leben bildete. Der Boden lieferte die Substanz, in der Wiedergeburten stattfinden konnten, wodurch sich das Moos diversifizierte und schließlich die vielen pflanzlichen und tierischen Lebensformen hervorbrachte, die heute existieren. Für die Raga ist der Schmetterling der Träger der ursprünglichen Erinnerung an diese Ereignisse.

Die Zeichnung »Bebe ure« ist also weit mehr als eine ikonische Zeichnung dessen, was die westliche Wissenschaft vom Leben in die Kategorie »Insekt« einordnet. Sie führt zu tieferen Überlegungen darüber, was ein Schmetterling für das Volk bedeutet und damit auch darüber, wie Gesellschaften ihre Beziehungen zu Nicht-Menschen betrachten. Diese Verbindungen fassen Anthropologen wie Philippe Descola unter dem Begriff Ontologien zusammen.

Die Mathematik kann dabei helfen, die Raga-Ontolo­gien zu verstehen. Dazu entwickelte ich einen Algorithmus, der alle Schleifen in einem zu einer Sandzeichnung gehörenden Graphen hervorhebt. Als ich den Algorithmus auf »Bebe ure« anwandte, hob ich die Schleifen durch unterschiedliche Farben hervor.

»Bebe ure« und ihre Zerlegung in Schleifen, die ein Algorithmus berechnet hat.

  • Bild: Alban Da Silva

Mir fiel auf, dass alle Schleifen außer der roten und der grünen in einem Stück ausgeführt waren. Wenn man diesem ersteren Komplex eine einzige Farbe zuordnet (blau), ergibt sich eine besonders interessante Zerlegung: Die Zeichnung »Bebe ure« erscheint wie ein Zusammenschluss dreier Pfade.

Indem man alle Schleifen außer rot und grün blau färbt, ergibt sich eine Zerlegung, die zur Raga-Ontologie passt. Die ethnomathematische Analyse der Zeichnung »Bebe ure« deutet darauf hin, dass der Schmetterling für die Raga die Überlagerung aller Zustände ist, aus denen er entstanden ist.

  • Bild: Alban Da Silva

Um die Zerlegung zu interpretieren, musste ich zur Weltanschauung der Raga-Gesellschaft zurückkehren. Anfang der 2000er Jahre zeigte der australische Anthropologe John Patrick Taylor, dass die Raga Zeit und Raum als geschichtet auffassen: Demnach erscheint die Vergangenheit nicht als eine Reihe von aufeinanderfolgenden Ereignissen, sondern als Überlagerungen davon. Der physische Raum wird durch stetige Veränderungen des Ortes geprägt - Bepflanzungen, Neubau von Häusern, Ernte von Feldfrüchten und so fort. Derartige Prozesse durchdringen in dieser Vorstellung schichtweise den Raum.

Indem ich andere Sandzeichnungen mit ethnographischen Daten abglich, kam ich zu dem Schluss, dass »Bebe ure« mehr als nur die ikonische Darstellung eines Schmetterlings ist. Die Zeichnung scheint sich auf die Verpuppung und den Übergang von der Larve zum Schmetterling zu beziehen. Aus meiner Sicht verdeutlicht die Zeichnung die Vorstellung der Raga, dass der Schmetterling das Ergebnis einer Überlagerung von vergangenen Zuständen ist. Diese werden durch die drei Schleifen symbolisiert: Die blaue steht für die Larve, die auch Gegenstand einer anderen Zeichnung ist (Avato, nach dem Namen einer dort verbreiteten Raupe). Die grüne Schleife könnte den Prozess der Transformation darstellen. Das Muster taucht in anderen Zeichnungen auf, die diese These stützen. Die rote Schleife entspricht dem Schmetterling, der sich verpuppt hat.

Einige Schleifen haben einen volkstümlichen Namen wie diese, die von den Raga im Norden von Pentecost »Livon gahi« (Ameisenzähne) genannt wird. Laut Edgar Hinge, der aus der Region stammt, symbolisiert er die mächtigen Mandibeln, die die Avato-Raupe zum Schneiden von Holz verwendet Die Schleife findet sich in der Zeichnung »Avato«, aber auch im Schmetterling »Bebe ure«.

  • Bild: Alban Da Silva

Bei solchen Überlegungen treffen mathematische und anthropologische Analysen aufeinander. Die mathematische Zerlegung eines Graphen in Schleifen liefert offenbar Hinweise auf die Vorstellungen der Raga vom Lebendigen. Vielleicht ist die Mathematik ein Türöffner, um mehr über das Weltbild dieser Gesellschaft zu erfahren.