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Wächter der Sümpfe

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Wächter der Sümpfe

Von Kate Evans und Arno Gasteiger
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Es war Februar 2019, Hochsommer auf der Südhalbkugel, als der 45-Tonnen-Bagger von Mark Magee mit der Schaufel auf etwas stieß, was sich nicht zur Seite buddeln ließ, neun Meter tief unten in der Erde.

Vorarbeiter Magee hatte den Auftrag, den Baugrund für ein neues Geothermiekraftwerk vorzubereiten. Es sollte nahe des kleinen Orts Ngāwhā in der Region Northland auf Neuseeland entstehen, jener langen Halbinsel, die sich von Auckland bis zur Nordspitze der Insel erstreckt.

Magee holte sich erst einmal Hilfe von ein paar Baggerfahrerkollegen. Sie trugen mit ihren Maschinen den Schlammstein über dem widerspenstigen Objekt ab und erkannten schließlich: Hier liegt ein Baum. Wenn auch kein ganz gewöhnlicher.
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Nach und nach legten sie einen schier endlos scheinenden Stamm frei, der mit seinem medusenhaften Wurzelgeflecht knapp 20 Meter lang und 2,50 Meter breit war sowie 65 Tonnen wog.
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Es handelte sich um einen Kauri-Baum, einen auf Neuseeland heimischen Nadelbaum mit kupferfarbener Rinde.

Ein Marae ist in der Māori-Kultur ein heiliger Versammlungsort, der religiösen und sozialen Zwecken dient. Der vorzeitliche Kauri-Stamm wurde wenige Kilometer vom Ngāwhā-Marae geborgen. Das Unternehmen, das ihn fand, stiftete ihn der Gemeinde.
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Den Māori, den Ureinwohnern Neuseelands, ist dieser Baum heilig; sie nutzen das honigfarbene Nadelholz für traditionelle Schnitzereien und seetüchtige Kanus. Erstaunt stellt Magee fest, dass an der Unterseite des Kauri-Baums grüne Blätter und Zapfen zu finden waren, obwohl er Jahrtausende unter der Erde gelegen hatte.
Ein Marae ist in der Māori-Kultur ein heiliger Versammlungsort, der religiösen und sozialen Zwecken dient. Der vorzeitliche Kauri-Stamm wurde wenige Kilometer vom Ngāwhā-Marae geborgen. Das Unternehmen, das ihn fand, stiftete ihn der Gemeinde.
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Der Energieversorger »Top Energy« zog Nelson Parker vom örtlichen Sägewerk hinzu, um Magees Fund zu untersuchen. Parker, ein breitschultriger, altgedienter Holzfäller grub seit Anfang der 1990er Kauri-Stämme wie das aktuelle Fundstück aus, verarbeitete und verkaufte sie.

Beim Ansägen der Rinde wurde ihm schnell klar, dass dieser Baum sehr alt war und viel Geld einbringen würde: Das Sägemehl hatte eine honigartige Färbung, der Geruch war dezent harzig. Und Parker wusste um den enormen wissenschaftlichen Wert von Sumpf-Kauris wie diesem. Ein derart großes, uraltes Baumexemplar liefert mit seinen Jahresringen unschätzbare Informationen für die auf die Auswertung spezialisierten Forschergruppen. Parker entfernte die Wurzeln, sägte eine zehn Zentimeter dicke Scheibe vom unteren Stammende ab und schickte es zur Analyse ein.

Was er damals nicht wissen konnte: Dieser Baum würde helfen, eine uralte globale Katastrophe und ihre Folgen für die Erdgeschichte besser zu verstehen.
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Kauri-Bäume

In Neuseeland gibt es heute noch lebende Kauri-Giganten, aber es werden immer weniger. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden ganze Landstriche entwaldet. Zudem lässt ein pilzartiger Erreger Bäume absterben.
In Neuseeland gibt es heute noch lebende Kauri-Giganten, aber es werden immer weniger. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden ganze Landstriche entwaldet. Zudem lässt ein pilzartiger Erreger Bäume absterben.
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Kauri-Bäume (Agathis australis) zählen zu den größten und langlebigsten Baumarten der Welt.

Ein einzelner Kauri kann mehr als zwei Jahrtausende alt werden, eine Höhe von 60 Metern und einen Durchmesser von über 5 Metern erreichen. Auch heute wachsen solche Bäume an entlegenen Stellen im Norden Neuseelands. Sie stehen aber auf der Liste der bedrohten Arten, nachdem sie ein Jahrhundert lang intensiver Rodung zur Gewinnung von Holz und landwirtschaftlichen Nutzflächen ausgesetzt waren und nun auch noch dem Risiko eines tödlichen Pilzbefalls ausgesetzt sind.

Über Zehntausende von Jahren hatten Kauri-Wälder weite Landstriche im hohen Norden der Insel für sich beansprucht. Dabei speicherten sie beim Wachsen in ihren Jahresringen Informationen über das Klima und die Zusammensetzung der Atmosphäre. Nachdem sie umgestürzt waren, versanken ein paar der schwersten Bäume tief im Torfmoor, wo sie jahrtausendelang nahezu unverändert begraben blieben.


In Neuseeland gibt es heute noch lebende Kauri-Giganten, aber es werden immer weniger. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden ganze Landstriche entwaldet. Zudem lässt ein pilzartiger Erreger Bäume absterben.
In Neuseeland gibt es heute noch lebende Kauri-Giganten, aber es werden immer weniger. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden ganze Landstriche entwaldet. Zudem lässt ein pilzartiger Erreger Bäume absterben.
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Kauri-Bäume können mehr als 2000 Jahre alt werden. Dieses Exemplar im neuseeländischen Waikato-Bezirk wird auf 1000 Jahre geschätzt.
Kauri-Bäume können mehr als 2000 Jahre alt werden. Dieses Exemplar im neuseeländischen Waikato-Bezirk wird auf 1000 Jahre geschätzt.
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Ab dem 19. Jahrhundert wurden solche Sumpf-Kauris wirtschaftlich interessant.

Umherziehende Harzsucher, die sogenannten »Gumdigger«, begannen nach dem goldenen Harz der Bäume zu suchen, um Firmis und Schmuck herzustellen. Sie buddelten dabei auf Äckern und in Feuchtgebieten und waren die Ersten, die Kapital aus den Funden zu schlagen wussten. Im Jahr 1985 untersagte die Regierung Neuseelands nach Protesten von Umweltschützern, lebende Bäume in öffentlichem Gelände zu fällen. Nun wichen auch die Holzhändler Northlands wie Nelson Parker auf Sumpf-Kauris aus: Sie baggerten die toten Bäume aus dem Boden und verkauften das exotische Holz an Möbelhersteller in Neuseeland, den USA sowie verschiedenen Ländern in Europa und Asien.

Das Gewerbe wuchs gemächlich, bis es 2010 durch die Nachfrage aus dem aufstrebenden China förmlich explodierte. Die Kunden dort waren gerne bereit, für Materialien mit antikem Touch höhere Preise zu zahlen, und so wurde Sumpf-Kauri zu einer der wertvollsten Holzarten der Welt: Die Preise lagen bei bis zu 5800 Euro pro Kubikmeter. Chinesische Händler boten Bauern im ländlichen Northland, einer der ärmsten Gegenden Neuseelands, bares Geld für Schürfrechte auf ihrem Grund.

Kauri-Bäume können mehr als 2000 Jahre alt werden. Dieses Exemplar im neuseeländischen Waikato-Bezirk wird auf 1000 Jahre geschätzt.
Kauri-Bäume können mehr als 2000 Jahre alt werden. Dieses Exemplar im neuseeländischen Waikato-Bezirk wird auf 1000 Jahre geschätzt.
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Die Aussicht auf schnellen Gewinn lockte Heerscharen fragwürdiger Kauri-Gräber nach Northland – etwa die bezeichnend getauften »Swamp Cowboys«, die sogar gefährdete Feuchtgebiete trockenlegten, um an ihre Beute zu kommen. Dabei waren in Northland ohnehin nur noch acht Prozent der Feuchtgebiete intakt. Naturschützer erkämpften in den Jahren darauf eine Regulierung des Sumpf-Kauri-Abbaus und erwirkten, dass das zuständige Ministerium sowie örtliche Verwaltungen zur Verantwortung gezogen wurden. 2018 entschied der oberste Gerichtshof Neuseelands dann einstimmig, Sumpf-Kauri-Exporte zu begrenzen. Zu diesem Zeitpunkt waren die dubiosesten Unternehmen schon pleite; der Export sank zwischen 2013 und 2019 von über 5500 auf knapp 280 Kubikmeter.

Das Ende des Sumpf-Kauri-Booms war ein großer Sieg für die Sumpfland-Aktivisten und eine starke Erleichterung für alle Kauri-Forscher. Denn sie wussten: Jeder einzelne Baum hat eine Geschichte zu erzählen.

Fortan war es einfacher, an Proben ausgegrabener Sumpf-Kauri zu kommen, bevor sie in Sägewerken verschwanden und den Weg nach Übersee antraten.

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Die hölzernen Archivare

Der Klimaforscher Drew Lorrey zeigt ein vom Stamm abgetrenntes Kauri-»Biscuit« mit Jahresringen.
Der Klimaforscher Drew Lorrey zeigt ein vom Stamm abgetrenntes Kauri-»Biscuit« mit Jahresringen.
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Im Oktober 2019 schaute ich Andrey Lorrey beim Arbeiten mit der Kettensäge zu. Es war kühl und windig, wir standen bei einer Koppel auf der abgeschiedenen Northland-Halbinsel Karikari. Lorrey sägte gerade ein sogenanntes »Biscuit«, eine zehn Zentimeter dicke Scheibe, vom gewaltigen Stamm eines Kauri. Um uns verstreut lagen dutzende ausgegrabener Stämme wie gestrandete Wale; verdreht, harzüberkrustet, mit Wurzeln, die sich wie anklagend dem stürmischen Himmel entgegenreckten.

Der stämmige, bärtige Amerikaner aus Neuengland ist Klimaforscher an Neuseelands staatlichem Institut für Wasser- und Atmosphärenforschung, dem NIWA. 2002 war er ins Land gekommen, um für seine Doktorarbeit Sumpf-Kauri zu erforschen. In den Jahren des »Goldrauschs« war er fast zwanghaft ständig unterwegs, um Proben zu sammeln – wohl wissend, dass er das Holz in den meisten Fällen nicht bekommt. Mit der Zeit haben Lorrey und ein paar andere Wissenschaftler ein vertrauensvolles Verhältnis zu den wichtigsten Holzarbeitern aufgebaut. »Ich will im Rückblick einmal sagen können, dass ich alles mir mögliche versucht habe, um dieses wertvolle Naturarchiv für die Wissenschaft zu erhalten«, erklärt er.

Der Klimaforscher Drew Lorrey zeigt ein vom Stamm abgetrenntes Kauri-»Biscuit« mit Jahresringen.
Der Klimaforscher Drew Lorrey zeigt ein vom Stamm abgetrenntes Kauri-»Biscuit« mit Jahresringen.
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Deirdre Ryan vermisst einen Kauri-Stamm auf der Halbinsel Karikari.
Deirdre Ryan vermisst einen Kauri-Stamm auf der Halbinsel Karikari.
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Alle Sumpf-Kauri-Funde lassen sich grob in zwei Altersgruppen einteilen: »Junge« Bäume, die vor einigen Tausend bis vor 13 000 Jahren starben, sowie »uralte«, die vor mehr als 25 000 Jahren gelebt haben. Einen »mittelalten« Kauri aus dem rund 12 000-Jahre-Zeitfenster dazwischen hat bislang kein Kauri-Forscher gefunden. Damals, um den Höhepunkt der letzten Eiszeit herum, herrschten tiefere Temperaturen und der Meeresspiegel lag etwa 90 Meter niedriger als heute. Wissenschaftler vermuten, dass die Kauris aufgrund der Kälte zu dieser Zeit nicht so weit verbreitet waren. Vielleicht wuchsen die Wälder zu Zeiten des gesunkenen Pegels weiter unten, auf dem Kontinentalschelf. Im wieder wärmer werdenden Klima versanken sie dann allmählich im wieder steigenden Ozean. Womöglich aber warten die Bäume dieser Epoche auch einfach noch irgendwo darauf, wieder entdeckt zu werden.

Chris Hensley, dem das Land auf der Karikari-Halbinsel gehört, ist ein schweigsamer, Pfeife rauchender Landwirt. Die Kauri sind für ihn schlicht lästig. Er hat die Stämme gefunden, als er eine alte Kiefernschonung zu Weideland umpflügte. »Sie beschädigen die Landmaschinen«, bestätigt Lorrey, für den die Stämme allerdings ein echter Glückstreffer sind. Sobald er davon erfahren hatte, organisierte er eine Exkursion und fuhr über vier Stunden von Auckland an, um sie zu untersuchen. Henley hatte die Stämme, insgesamt 104 Stück, mit seinem Bagger wie Streichhölzer auf dem Boden nebeneinander gelegt.

»›Ich hab‘ ne Goldader!‹, dachte ich, als ich ankam«, erinnert sich Lorrey.

Deirdre Ryan vermisst einen Kauri-Stamm auf der Halbinsel Karikari.
Deirdre Ryan vermisst einen Kauri-Stamm auf der Halbinsel Karikari.
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Mit Leim wird die Schnittfläche der Sumpf-Kauri vor Witterungseinflüssen geschützt.
Mit Leim wird die Schnittfläche der Sumpf-Kauri vor Witterungseinflüssen geschützt.
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Während meines Besuchs ging er von Stamm zu Stamm, sägte von jedem ein Biscuit ab und notierte sorgfältig Maße und Fundort. Dann strich er die Schnittflächen mit weißer Kleisterfarbe, um das Holz vor Umwelteinflüssen zu schützen.

Während Lorrey arbeitete, kam Hensley herüber und erklärte, die Altersbestimmung des Holzes würde ihm den späteren Verkauf erleichtern. »So bekomme ich die Datierung umsonst.«

Im Gegenzug erhalten die Wissenschaftler etwas, das sie sonst nirgendwo finden.

Es gibt andere vorzeitliche Bäume auf der Welt, keine aber sind so alt, langlebig und zahlreich wie die Kauri. Auf der Nordhalbkugel sind nur wenige Bäume der Eiszeit zwischen den umherwandernden, alles zermahlenen Eisschilden intakt geblieben. Eine Handvoll aber sind aufgetaucht: Forscher haben zum Beispiel in Japan eine 23 000 Jahre alte Zypresse gefunden, die der Schlammstrom eines Vulkanausbruchs nahe des Fuji begraben hatte. Dennoch sind »die Kauri weltweit einzigartig«, sagt Lorrey. »Aus diesem Zeitfenster der Erdgeschichte gibt es vergleichbaren Holzfunde sonst gar nicht. Punkt, aus.«



Mit Leim wird die Schnittfläche der Sumpf-Kauri vor Witterungseinflüssen geschützt.
Mit Leim wird die Schnittfläche der Sumpf-Kauri vor Witterungseinflüssen geschützt.
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Datierung

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Forscherinnen und Forscher kennen andere natürliche Klimaarchive, die einen Einblick in die Vergangenheit erlauben: Eisbohrkerne, Seesedimente, Stalaktite und Stalagmite.

Bäume aber seien, sagt Lorrey, »der Goldstandard«.

Ihre Proben stammen unmittelbar aus der Atmosphäre, und die darin enthaltenen Daten sind für jedes Jahr mit Informationen über weitere Umweltparameter in den Wachstumsringen gespeichert. Hochbetagte, gut erhaltene Kauri seien eine Art »hochauflösende Zeitkapsel«, betont Lorrey. Jahresringe werden, anders als Eisbohrkerne und Sedimentproben, nicht mit der Zeit zusammengepresst und verändert. Zudem lassen sich verschiedene ähnlich alte Bäume vergleichen und so lokale oder individuelle Abweichungen glätten, was verhindern kann, dass allgemeingültige Schlussfolgerungen zum Klima verfälschen werden. Eine solche Abweichung schleicht sich zum Beispiel leicht ein, wenn ein einzelner Baum einige Jahre lang langsamer wächst, weil Staunässe oder der Schattenwurf anderer Pflanzen ihn benachteiligt.

Baumringe bringen auf verschiedene Arten Licht in die Vergangenheit. Zählt man sie unter einem Mikroskop, erfährt man zunächst, wie lange ein Baum gelebt hat. Die Biscuit-Scheibe, die Nelson Parker von dem bei Ngāwhā gefundenen Stamm abgetrennt hat, belegt beispielsweise, dass der Kauri im Alter von 1600 Jahren gestorben ist. 1600 Ringe, 1600 Jahre.

Die Breite der einzelnen Jahresringe lässt wiederum Rückschlüsse auf sich ändernde Wachstumsbedingungen zu. Eine chemische Analyse jedes Rings gibt dem Team Hinweise auf Niederschlagsmuster, auf die relative Luftfeuchte sowie Bodenfeuchte. Mit Computerprogrammen und einer visuellen Prüfung von Jahresringmustern, lassen sich Proben aus unterschiedlichen Zeiten und Orten zu langen Sequenzen kombinieren, sogenannten Chronologien. Diese erstrecken sich teils lückenlos über Jahrtausende und offenbaren überregionale Muster im Klimageschehen.

Ein Beispiel ist die Jahresringe-Chronologie, die Gretel Boswijk von der University of Auckland und Kollegen erstellt haben. Sie haben die Daten von 700 Proben aus uralten und lebenden Kauri zusammengefügt, um eine 4491 Jahre überspannende Zeit zwischen 2488 v. Chr. bis heute zu bekommen. Auf dieser Grundlage ermittelte Boswijks Kollege Anthony Fowler, dass Kauri sehr empfänglich auf die im Pazifik auftretende ENSO-Klimaanomalie reagieren. Die Abkürzung steht für »El Niño/Southern Oscillations«. Die Anomalie beeinflusst die mittlere Jahrestemperatur und die Niederschläge weltweit: »In einem El-Niño-Jahr bekommen wir hier im Norden mehr südwestliche Strömungen mit eher klarem Himmel, aber auch tieferen Durchschnittstemperaturen«, erklärt Boswijk. »Für Kauri sind das sind gute Bedingungen, sie bilden also einen breiten Ring.« In einem wärmeren La-Niña-Jahr mit mehr Bewölkung wachsen Kauris schmalere Ringe, »sie sind gestresst und gedeihen nicht so gut«.

Mit den Baumdaten konnte das Team 700 Jahre der ENSO-Variationen im nördlichen Neuseeland rekonstruieren und ein Langzeitbild der natürlichen Klimaveränderungen vor Ort erstellen. Zum Vergleich: Historische Klimaaufzeichnungen reichen nur 150 Jahre zurück. Die weiter zurückreichende Zeitachse liefert Klimamodellierern nun wichtige Daten, um die Entwicklung der ENSO in der Zukunft zu prognostizieren, etwa im Rahmen der menschengemachten Erderwärmung.

Forschende haben eine Reihe weiterer Kauri-Chronologien erstellt, die noch weiter in die Vergangenheit zurück gehen. Jede davon erstreckt sich über einige Jahrtausende der vergangenen 60 000 Jahre. Allerdings reichen diese nicht bis in die Gegenwart, und ihre kalendarische Zuordnung bleibt damit unsicher – man nennt sie »schwimmende« oder »schwebende Chronologien«. Lorrey träumt davon, diese einmal zu einer lückenlosen Reihe verbinden zu können, wenn eines Tages die richtigen Stämme aus den fehlenden Zeiträumen gefunden werden.

Aber auch jetzt schon sind schwimmende Chronologien und vorzeitliche Kauri-Proben unschätzbar wertvoll für die Wissenschaft weltweit. Zum Beispiel können Forscherinnen und Forscher mit ihnen das Alter anderer pflanzlicher, menschlicher und tierischer Funde einordnen, die einige zehntausend Jahre überdauert haben.

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Jahrringe verraten das Alter

Aus Holz werden Daten: Der Radiokarbon-Experte Alan Hogg datiert in seinem Labor Kauri mit Hilfe radioaktiver Isotope.
Aus Holz werden Daten: Der Radiokarbon-Experte Alan Hogg datiert in seinem Labor Kauri mit Hilfe radioaktiver Isotope.
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Das Radiokarbondatierungslabor der University of Waikato hat Wände wie ein chaotisches Labyrinth. Miteinander verbundene Glasröhren zieren sie, Drahtgewebe, Vakuumpumpen, Gashähne und am Rand überfrorene Behälter mit flüssigem Stickstoff. Runde Glasballons dienen als Gasfänger und sind wie halbfertige Pappmaché-Projekte mit Malerkrepp überzogen. »Für den Fall, dass sie explodieren«, erklärt Laborleiter Alan Hogg, der mich dort herumgeführt hat. Es sei schon vorgekommen, dass Splitter durch die Tür flogen um sich in die gegenüber liegende Flurwand zu bohren. »Der Grund für die Schutzbrillen«, betont Hogg.

Der bebrillte, schlaksige Wissenschaftler ist weltweit anerkannter Experte für Radiokarbondatierungen. Bei dieser Methode misst man das Alter von Proben aus organischem Material, indem man die Verteilung der darin enthaltenen radioaktiven Isotope bestimmt. Ein so datierter Sumpf-Kauri verrät den Forschenden, vor wie langer Zeit die Bäume gelebt haben. Aber nicht nur das: Die Informationen können mit bereits bekannten Radiokarbondaten aus anderen Natur-Archiven wie Seesedimenten oder Stalagmiten zusammengeworfen werden, um so exaktere Zeitleisten der lang zurückliegenden Vergangenheit zu rekonstruieren.

In Hoggs Labor landeten auch einige faustgroße Proben des in Ngāwhā ausgegrabenen Stamms. Jede lässt vierzig Ringe erkennen, deckt also vier Jahrzehnte ab. Bei der Verarbeitung mahlen Labortechniker das Holz zunächst zu einem feinen, zimtartigen Pulver, das sie in eine Reihe blubbernder Glasperkolatoren schütten, um alle Verunreinigungen zu entfernten. Dann bleichen und dehydrieren den Rückstand, um eine fluffige, weiße, an Schafwolle erinnernde Substanz zu erhalten. Die kommt schließlich in die an der Wand aufgereihten Glasröhren. Chemische Reaktionen verwandeln die organischen Moleküle aus dem Holz darin in reines Benzol. Am Ende erinnert nichts mehr an ein Kauri-Baum, in der Probe steckt aber noch immer die gleiche Menge Kohlenstoff.


Aus Holz werden Daten: Der Radiokarbon-Experte Alan Hogg datiert in seinem Labor Kauri mit Hilfe radioaktiver Isotope.
Aus Holz werden Daten: Der Radiokarbon-Experte Alan Hogg datiert in seinem Labor Kauri mit Hilfe radioaktiver Isotope.
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Mit Holzstückchen eines Kauri-Biscuits wird die Radiokarbondatierung durchgeführt.
Mit Holzstückchen eines Kauri-Biscuits wird die Radiokarbondatierung durchgeführt.
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Radiokarbon oder C14, ein radioaktives Kohlenstoffisotop, reichert sich in winzigen Mengen in Pflanzen an, wenn diese für die Photosynthese Kohlendioxid aus der Luft aufnehmen. Tiere und Menschen, nehmen das C14 durch den Verzehr von Pflanzen auf. Sobald Pflanze oder Tier sterben, gibt es keinen Nachschub mehr, das Radiokarbon aber zerfällt in Zellen und Geweben mit einer konstanten Rate, erklärt Hogg. »Nehmen wir mal an, Sie hätten ein Häuflein C14-Atome in der Hand – dann wären davon nach 5730 Jahren nur noch die Hälfte da.«

Und nach weiteren 5730 Jahren wäre wieder die Hälfte vom Rest verschwunden. Nach etwa 60 000 Jahren bliebe nur noch so wenig übrig, dass man es kaum mehr nachweisen kann: Damit ist die äußerste Grenze für die Radiokarbondatierung erreicht.

Wenn Hoggs Team die Menge von C14-Atomen bestimmt – etwa in der zu Benzol aufbereiteten Ngāwhā-Probe –, dann gibt es zunächst eine lichtemittierende Chemikalie hinzu, einen Szintillator. Dieser »wird angeregt, wenn Energie erzeugt wird«, erklärt er. Die Mischung kommt anschließend für eine Woche in ein kühlschrankgroßes Flüssigszintillationsspektrometer, das Lichtpulse zählt. Dort zerfallen die C14-Atome aus dem Ngāwhā-Holz langsam und kontinuierlich weiter, wie sie es schon immer getan haben, seit der riesige Baum umgestürzt ist. Mit jedem umgewandelten C14-Atom wird dabei ein wenig Energie frei, die mit Hilfe des Szintillator einen Lichtblitz erzeugt, der vom Spektrometer gezählt wurde: Je weniger Blitze pro Minute, desto weniger Zerfallsereignisse und desto älter das Holz. Am Ende, nach mehreren Wiederholungen des Vorgangs, bestätigt das dann ein Ergebnis: Der Ngāwhā-Kauri hat ein Radiokarbon-Alter von zwischen 36 000 und 39 000 Jahren.

Mit Holzstückchen eines Kauri-Biscuits wird die Radiokarbondatierung durchgeführt.
Mit Holzstückchen eines Kauri-Biscuits wird die Radiokarbondatierung durchgeführt.
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Labortechniker entfernen in einer Reihe chemischer Prozesse Harz, bleichen das Kauri-Holz mit Säure und verwandeln es in aufgelockerte Alpha-Zellulose.
Labortechniker entfernen in einer Reihe chemischer Prozesse Harz, bleichen das Kauri-Holz mit Säure und verwandeln es in aufgelockerte Alpha-Zellulose.
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Die Radiokarbon-Datierung entspricht aber nicht dem kalendarischen Alter des Baumes. Das liegt daran, dass die Halbwertszeit von C14 zwar immer gleich bleibt, die C14-Konzentration in der Atmosphäre aber variiert. Sie verändert sich mit der Zeit, etwa durch Änderungen in der Sonneneinstrahlung, mit der Stärke des Erdmagnetfeldes und, in der historischen Neuzeit, durch menschliche Einflüsse, wie zum Beispiel dem Zünden von Atombomben. All das sorgt dafür, dass man auch schon einmal dieselbe Menge an C14 in zwei unterschiedlichen Jahresringen nachweisen kann.

Die Abweichungen sind zu korrigieren. Dazu benötigen Forscherteams eine zuverlässige Zeitleiste der Radiokarbonschwankungen als Kalibrationskurve, mit der die Radiokarbondatierungen sich in Kalenderdaten übersetzen lassen. Eine Gruppe internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, zu denen auch Hogg gehörte, hat im Jahr 2020 nach sieben Jahren Arbeit die neueste Version einer solchen Kalibrierkurve veröffentlicht. Damit war es mit Hilfe der Wiggle-Matching-Methode gelungen, die Sumpf-Kauri-Chronologien mit denen von Korallen, Stalagmiten und weiteren Quellen abzugleichen. Die Jahresringe von Bäumen haben Vorteile gegenüber anderen Datenquellen aus Naturarchiven: Sie liefern jährliche Datenpunkte und zeigen den Forschenden damit recht plötzliche Veränderungen, die sonst nicht erkennbar sind. »Durch die Kauri bekommen wir eine Kurve mit höherer Auflösung«, erklärt Paula Reimer von der Queen‘s University in Belfast, die Leiterin des Kalibrierungsteams.


Labortechniker entfernen in einer Reihe chemischer Prozesse Harz, bleichen das Kauri-Holz mit Säure und verwandeln es in aufgelockerte Alpha-Zellulose.
Labortechniker entfernen in einer Reihe chemischer Prozesse Harz, bleichen das Kauri-Holz mit Säure und verwandeln es in aufgelockerte Alpha-Zellulose.
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Die Zelluloseproben werden chemisch umgewandelt und in Fläschchen analysiert. Ein Gerät zählt die Lichtpulse des radioaktiven Kohlendioxidzerfalls und liefert so Anhaltspunkte für das Alter der Probe.
Die Zelluloseproben werden chemisch umgewandelt und in Fläschchen analysiert. Ein Gerät zählt die Lichtpulse des radioaktiven Kohlendioxidzerfalls und liefert so Anhaltspunkte für das Alter der Probe.
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Mit der präziseren Kurve lassen sich etwa Gebäude und Ruinen aus der Vergangenheit besser datieren. Sie hilft auch, die Häufigkeit von Vulkanausbrüchen und Erdbeben zu ermitteln. Als neue Erkenntnis hat sich ergeben, dass der Meeresspiegel vor 15 000 Jahren durch schmelzende Eisschilde um mehr als 15 Meter gestiegen ist. Dabei hat er den südostasiatischen Sundaschelf überschwemmt, der sich von der malaiischen Halbinsel über Borneo bis Bali erstreckt. Und dies geschah noch deutlich schneller als bisher angenommen, wie sich mit Hilfe der neuen Kurven herauskristallisiert: Der Prozess war nach gerade einmal 160 Jahren vorbei, nachdem das Meer zirka 90 Zentimeter pro Jahr stieg. Das zeigt: Der Meeresspiegel kann auch sehr plötzlich steigen, nicht nur allmählich infolge steigender globaler Temperaturen – eine womöglich wichtige Lektion in Zeiten schmelzender antarktischer Eisschilde.

Die neue Kurve legt zudem nahe, dass der moderne Mensch und der Neanderthaler in Europa nicht so lange nebeneinander existiert haben wie bisher gedacht; wohl eher nur 4000 statt 6000 Jahre. Und Forscher kennen nun auch das Alter der ältesten Höhlenmalerei in der Chauvet-Höhle in Frankreich besser: Sie entstand 450 Jahre früher als bislang angenommen, vor 36 500 Jahren.

Jedes wieder entdeckte alte Kauri-Exemplar könnte der Kalibrierungskurve Details hinzufügen und sie noch exakter machen. Das dürfte mehr über Klimawandel, Aussterbeereignisse und die menschliche Vorgeschichte verraten. »Wesentlich ist immer, was wann geschah«, sagt Lorrey. »Wenn wir einen Zeitverlauf bestätigen, dann erschließen sich Ursache und Wirkung. Dabei können uns die Kauri helfen, sie sind unser Entschlüsselungscode.«

Die Zelluloseproben werden chemisch umgewandelt und in Fläschchen analysiert. Ein Gerät zählt die Lichtpulse des radioaktiven Kohlendioxidzerfalls und liefert so Anhaltspunkte für das Alter der Probe.
Die Zelluloseproben werden chemisch umgewandelt und in Fläschchen analysiert. Ein Gerät zählt die Lichtpulse des radioaktiven Kohlendioxidzerfalls und liefert so Anhaltspunkte für das Alter der Probe.
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Die Radiokarbonanalysen der Kauri sind also für Datierungszwecke ungemein nützlich. Abgesehen davon informieren die Kauri-Jahresringe über Veränderungen im Erdmagnetfeld, wie sie etwa im Jahr 1859 auftraten. Damals gab es eine Sonneneruption, einen gewaltigen koronalen Massenauswurf, der die Erde mit Strahlung bombardiert hat. Daraus resultierte ein eintägiger geomagnetischer Sturm, das Carrington-Ereignis, der das gerade erst entstehende Telegrafennetz komplett lahmlegte. In Mexiko, Kuba, Hawaii und Queensland waren Polarlichter zu sehen. Sie leuchteten im Nordosten der USA so hell, dass man bei ihrem Licht Zeitung lesen konnte. Goldsucher in den Rocky Mountains bereiteten mitten in der Nacht ihr Frühstück vor, da sie das Leuchten für die Morgendämmerung hielten.

Mit Radiokarbonanalysen konnte in der weiter zurückliegenden Vergangenheit noch gewaltigere Sonnenstürme identifiziert werden. Der japanische Forscher Fusa Miyake zeigte 2012 anhand der Jahresringe japanischer Bäume, dass um 774 v. Chr. eine viel stärkere Sonneneruption erfolgte, die heute als Miyake-Ereignis bezeichnet wird. Sie sorgte für einen dramatischen Anstieg der C14-Werte im Holz. Für dasselbe Jahr berichtet die mittelalterliche Angelsächsische Chronik, die im neunten Jahrhundert entstand, von einem unheimlichen roten Kruzifix am Himmel. Einer Schweizer Studie zufolge, zu der Hogg und Boswijk beigetragen haben, belegen die Jahresringe der Sumpf-Kauri einen deutlichen C14-Anstieg im selben Jahr. Wissenschaftler haben ähnliche Miyake-Ereignisse in den Jahren 994 n. Chr. und 5480 v. Chr. festgestellt. Mit hochauflösenden Sumpf-Kauri-Zeitleisten ließe sich noch einiges mehr aus der Zeit vor Zehntausenden von Jahren herausfinden.

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Dabei geht es nicht nur um akademische Interessen. Für Menschen auf der Erde ist selbst ein geomagnetischer Sturm vom Format eines Carrington-Ereignisses eher ungefährlich, solch ein Ereignis könnte jedoch künftig mal stark genug sein, um elektrische und Kommunikationssysteme auf dem gesamten Planeten auszuschalten – also Satelliten und GPS, Stromnetze und das Internet. »Wir müssen herausfinden, ob ein hundertmal-stärker-als-Carrington-Ereignis passieren kann«, erklärt Hogg. »Dabei geht es nicht um Panikmache. Das sind gewaltige Ereignisse, die alles durchschmoren könnten. Wir wollen wissen: ›Was ist der größte Schaden, den die Sonne anrichten kann?‹«

Sonnenstürme sind nicht die einzigen im Kauriholz verewigten geomagnetischen Geschehnisse. Vor etwa 42 000 Jahren begann das Magnetfeld der Erde für ein Jahrtausend zu wandern und polte sich in einer Polexkursion kurzzeitig um. Wissenschaftler nannten es das Laschamps-Ereignis, nach dem französischen Dorf, in dem sie die magnetische Signatur der Exkursion erstmals in einem Lavastrom entdeckten. Würde eine solche Umpolung des Erdmagnetfeldes heutzutage passieren, wären die globalen Kommunikationssysteme ernsthaft bedroht und Schäden in Milliardenhöhe zu erwarten. Satellitendaten zeigen, dass das Magnetfeld der Erde gerade schwächer wird und der magnetische Nordpol sich schneller als erwartet bewegt, so dass einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über eine kurz bevorstehende Exkursion spekulieren. Doch noch sind solche Ereignisse zu unbekannt, um sie vorhersagen zu können; zudem ist unklar, welche Auswirkungen auf die irdische Lebenswelt zu erwarten wären. Allerdings: Der Ngāwhā-Kauri hat auch in diesem Punkt einige spannende Einblicke geliefert.

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Einige Māori-Stämme glauben, dass Kauri und Wale miteinander verwandt sind: In einer ihrer Geschichten tauschen die beiden Riesen ihre Haut.
Einige Māori-Stämme glauben, dass Kauri und Wale miteinander verwandt sind: In einer ihrer Geschichten tauschen die beiden Riesen ihre Haut.
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Denn als Hogg die Radiokarbondaten des Baumes anhand der Kalibrierkurve anpasste, wurde klar, dass sie den Beginn des Laschamps-Ereignisses umfassten. Der Kauri war vor etwa 42 715 Jahren zu einem Schössling herangewachsen und stürzte 1600 Jahre später in den Schlamm. Mit Alan Cooper vom South Australian Museum und Chris Turney von der University of New South Wales glichen Hogg und Lorrey die Informationen in den Ringen des Baumes mit anderen natürlichen Archiven ab, um eine genaue Abfolge der Ereignisse zu erstellen. In einem Artikel, den sie im Februar 2021 in der Fachzeitschrift »Science« veröffentlicht haben, erzählen sie die Geschichte einer globalen Umweltkatastrophe. Demnach schwächte sich, als der Ngāwhā-Kauri wenige hundert Jahre alt war, das Magnetfeld der Erde dramatisch ab. Gleichzeitig trat die Sonne in eine periodische, jahrhundertelange Ruhephase mit viel weniger Sonnenflecken und geringerer Energieabgabe ein, ein sogenanntes großes solares Minimum.

In dieser Phase wurden der Sonnenwind und das solare Magnetfeld schwächer, die der Erde als Schutzschild gegen die kosmische Strahlung dienen. So war die Erdatmosphäre einige hundert Jahre lang schlecht geschützt und wurde mit ionisierenden Teilchen aus dem Weltraum bombardiert. Wahrscheinlich wüteten Blitze, Polarlichter säumten selbst gemäßigte Breiten und die Wetterlage war extrem wechselhaft. »Das muss ziemlich irre gewesen sein«, sagt Cooper. Der Ngāwhā-Kauri hat all das durchlebt.

In den darauffolgenden paar Jahrhunderten wuchsen die Eisdecken in Nordamerika rasch, während das Klima in Australien trockener wurde und die Seen im Landesinneren verschwanden. Diese Veränderungen liefen übrigens mehr als 10 000 Jahre nach der Ankunft des modernen Menschen auf dem Kontinent ab. Cooper vermutet, dass in der Zeit des solaren Minimums auch zahlreiche Arten der australischen Megafauna ausstarben, etwa das riesige, wombatähnliche Diprotodon. Demnach sind nicht allein Menschen für das Verschwinden der Arten verantwortlich; wahrscheinlich mussten sie bloß an den austrocknenden Wasserlöchern lauern, um den ohnehin todgeweihten Arten den Rest zu geben.

Einige Māori-Stämme glauben, dass Kauri und Wale miteinander verwandt sind: In einer ihrer Geschichten tauschen die beiden Riesen ihre Haut.
Einige Māori-Stämme glauben, dass Kauri und Wale miteinander verwandt sind: In einer ihrer Geschichten tauschen die beiden Riesen ihre Haut.
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Vor 42 000 Jahren tauchte auch erstmals die Kunst der Höhlenmalerei auf – weltweit von Europa bis Indonesien. Cooper ist überzeugt, dass hier das Laschamps-Ereignis ebenfalls eine Rolle gespielt haben könnte. Vielleicht zwangen widrige Wetterbedingungen und sehr hohe UV-Werte unsere Vorfahren in Höhlen, wo die Bilder, die sie normalerweise auf weniger haltbare Oberflächen wie Felsen oder Bäume gemalt hätten, stattdessen über Jahrtausende an den Wänden erhalten blieben. Interessanterweise starben die Neandertaler kurz danach aus, vor etwa 40 900 Jahren. Die Autorinnen und Autoren der Studie vermuten, dass die Kombination aus den solaren Minima und dem geschwächten Magnetfeld die Klimaveränderungen auslöste und damit auch die Folgewirkungen auf Mensch und Tier. »Das erklärt eine Reihe von Mustern vor rund 42 000 Jahren, die bisher ein Rätsel waren«, sagt Cooper.

Das Team schlägt vor, diese kritische Übergangsphase zu Beginn des Laschamps nach Douglas Adams als »Adams-Ereignis« zu benennen. In »Per Anhalter durch die Galaxis«, den Kultromanen des britischen Autors, lautet die Antwort auf die Frage nach »dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest« lapidar »42«. Das Adams-Ereignis, heißt es in dem Artikel, stelle »offenbar einen wichtigen klimatischen, ökologischen und archäologischen Wendepunkt dar, der bisher weitgehend unbemerkt blieb«.

Schwere geomagnetische und solare Ereignisse könnten – entgegen bisherigem Wissen – sehr wohl das globale Klima beeinflussen, schreibt die Gruppe weiter. Sie versichern aber zugleich, dass dies keine Erklärung für die gegenwärtige Erwärmung ist. Die Perspektive eröffne ein neues multidisziplinäres Forschungsfeld, betont Cooper. »Planet und Klimasystem zeigen sich nun viel veränderlicher.«

Der Schlüssel zu allen diesen neuen Erkenntnissen und Sichtweisen war der in Ngāwhā ausgegrabene Kauri. »Auf eine Phase mit derart schwachem Erdmagnetfeld zu stoßen ist echt ungewöhnlich«, sagt Hogg, »und dann einen so langlebigen Baum zu finden, der genau diese Zeit durchlebt hat? Wir sollten mehr damit machen. Das ist erst der Anfang.«

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Heute

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Mittlerweile befindet sich der Ngāwhā-Kauri in dem kleinen Dörfchen, nach dem er benannt wurde: In drei gewaltigen Stücken verteilt auf dem Parkplatz eines Māori-Gemeindehauses, Marae genannt. Der Kauri-Stamm liegt dort neben seinem aufrechten Wurzelballen, als sei er gerade gefällt worden. Die Enden sind gegen die Feuchtigkeit mit Klarlack versiegelt, die schuppige Rinde blättert allmählich ab und landet in welligen Stückchen auf dem Schotter.

Im Mai 2020 habe ich Ngāwhā besucht, kurz nachdem Neuseeland seine strengen Covid-Beschränkungen gelockert hatte. Die gemeindeälteste Donna Tukariri hat mich erwartet. Sie gehört dem Komitee an, das die Ankunft des Baumes organisiert hat. Die kleine Siedlung hat einen Māori-sprachigen Kindergarten und eine historische Holzkirche. »Als wir ihn gefunden haben, waren meine Träume voller Geplapper«, erzählt mir Tukariri. Sie habe die Verwirrung des Baumes gespürt – als sei er aus langer Bewusstlosigkeit in einer veränderten Welt erwacht. Nun sehe sie sich als Kaitiaki, als Hüterin des Baumstamms: »Es fühlte sich an, als käme er in die richtigen Hände«, sagt sie.

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In bester Obhut: Einer der riesigen Bäume liegt in drei Stücke zerlegt auf dem Parkplatz des Ngāwhā-Marae.
In bester Obhut: Einer der riesigen Bäume liegt in drei Stücke zerlegt auf dem Parkplatz des Ngāwhā-Marae.
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Das Energieunternehmen, dem das Land gehört, wo der Baum entdeckt wurde, hätte ihn für ein kleines Vermögen verkaufen können. Stattdessen entschied man sich, ihn dem nahe gelegenen Marae zu schenken. Aufgrund seiner Größe ließ er sich nur in Stücke zerlegt transportieren. Der Sägewerker Nelson Parker, der ihn zuerst begutachtet hatte, trennte den Wurzelballen und die Krone ab. Die Stücke wurden mit zwei Kränen auf Sattelschlepper gehoben, um sie fünf Kilometer nach Ngāwhā zu schaffen, vorbei an flachen vulkanischen Hügeln, Weiden und den spärlichen Resten des einheimischen Buschwerks.

Als der Baum eintraf, segneten ihn die Ältesten in einer eindrucksvollen traditionellen Zeremonie – fast so, als würde ein Verstorbener ins Marae gebracht. Frauen begrüßten ihn mit einem Karanga und ein Meisterschnitzer, ein Tohunga Whakairo, weihte den Stamm in einer Mischung aus Māori- und christlicher Spiritualität.

Tukariri spazierte zum Ende des Hauptstammes, dem größten Stück. Sie legte ihre Stirn an die Schnittfläche und schloss die Augen. Ihr Atem strömte über jeden einzelnen der 1600 winzigen konzentrischen Ringe, die von jedem Jahr im langen Leben dieses Baumes berichten. Sie begrüßte ihn mit einem Hongi und bekundete ihm damit auf traditionelle Weise Respekt. »Im Hongi tauschen wir unseren Atem«, erklärt sie. Auch wenn dieser Baum schon so lange tot ist, glaubt sie doch, dass er noch immer über Mauri, über Lebensessenz, verfügt. »Für Māori hat alles Lebensessenz, ganz gleich, ob es lebt oder nicht.«

In bester Obhut: Einer der riesigen Bäume liegt in drei Stücke zerlegt auf dem Parkplatz des Ngāwhā-Marae.
In bester Obhut: Einer der riesigen Bäume liegt in drei Stücke zerlegt auf dem Parkplatz des Ngāwhā-Marae.
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Das Gemeinschaftshaus weit im Norden Neuseelands.
Das Gemeinschaftshaus weit im Norden Neuseelands.
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Aber Kauri nehmen eine besondere Rolle ein. Einige Māori-Stämme betrachten die größten Kauri als die Beine des Waldgottes Tāne Mahuta. Andere Geschichten erzählen von einer Verwandtschaft zwischen Kauri und Walen. In einer ihrer Geschichten tauschen sie ihre Haut, darum sei die Rinde der Kauri so »dünn und voller Harz«.

Die Gemeinde berät noch, was mit dem Stamm geschehen soll. Laut der Vereinbarung mit dem Energieunternehmen sollen ihn die Menschen hier für »kulturelle Zwecke der Māori« nutzen. »Wir können ihn also verschenken«, sagt Tukariri. »So würden wir es in der Māori-Kultur normalerweise machen: ihn mit anderen teilen.«

Er wird wohl in kleineren Stücken für Schnitzereien und andere zeremonielle Zwecke im weiteren Stamm verteilt, um Freundschaften und Allianzen zu schmieden. Aber für den Moment ermutigt Tukariri die Menschen bei Veranstaltungen im Marae, wie Treffen, Geburtstagen und Beerdigungen, sich etwas Zeit zu nehmen, um mit ihrem Baum zu kommunizieren.

Mir empfahl sie es ebenfalls.

Das Gemeinschaftshaus weit im Norden Neuseelands.
Das Gemeinschaftshaus weit im Norden Neuseelands.
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Donna Tukariri begrüßt den Ngāwhā-Baum mit dem traditionellen Hongi der Māori. So möchte sie dem Leben Respekt erweisen, das noch immer in ihm weilt.
Donna Tukariri begrüßt den Ngāwhā-Baum mit dem traditionellen Hongi der Māori. So möchte sie dem Leben Respekt erweisen, das noch immer in ihm weilt.
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Es war später Nachmittag und das Ende des Baumstamms leuchtete golden im schwachen Winterlicht. Selbst mit ausgestreckten Armen konnte ich den Stamm nicht umfassen. Das sonnengewärmte Holz war rau an meiner Wange und ich roch den würzigen, kiefernartigen Duft des Harzes als wäre er erst vor einem Jahr umgestürzt.

Doch als dieser Baum zuletzt aufrecht stand und das Sonnenlicht auf seinen Blättern spürte, lebten Neandertaler und Denisova-Menschen auf der Erde. Der Homo sapiens war noch viele Jahrtausende von Neuseeland entfernt. Er hatte vor kurzem Europa besiedelt und war vielleicht gerade erst zum Künstler geworden.

Tukariri war zu schüchtern, um in meiner Anwesenheit zu singen, was sie normalerweise tut, wenn sie den Baum besucht. »Nur ein paar Waiata[-Lieder], die ich kenne. So mache ich es auch, wenn ich das Grab meiner Mutter besuche. Du singst ein Lied und sagst: ›Ich denke an Dich!‹ Das ist das Gleiche.«

Ihr kamen die Tränen, bewegt von diesem 65 Tonnen schweren, längst toten Baum, der für Māori wie Wissenschaftler gleichermaßen voller Geschichten steckt, als Bote aus einer anderen Zeit.  ¶
Donna Tukariri begrüßt den Ngāwhā-Baum mit dem traditionellen Hongi der Māori. So möchte sie dem Leben Respekt erweisen, das noch immer in ihm weilt.
Donna Tukariri begrüßt den Ngāwhā-Baum mit dem traditionellen Hongi der Māori. So möchte sie dem Leben Respekt erweisen, das noch immer in ihm weilt.
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Der Artikel ist ursprünglich unter dem Titel »Swamp Sentinels« auf »bioGraphic« erschienen, einem digitalen Magazin, das von der California Academy of Sciences publiziert wird.

Kate Evans

Die Autorin lebt als freiberufliche Journalistin an der Küste des ländlichen Neuseelands. Kate Evans schreibt für »New Zealand Geographic«, »Scientific American« sowie »The Guardian« und ist fasziniert davon, wie menschliches und pflanzliches Leben miteinander verbunden sind. Vor fünf Jahren pflanzte Sie einen Kauri-Baum auf die Plazenta ihrer Tochter, wie es Māori und andere Neuseeländer traditionell tun. Sie können Kate Evans auf Twitter folgen: @kate_g_evans

Arno Gasteiger
Als Hauptfotograf für »New Zealand Geographic« hat Arno Gasteiger mehr als 100 Aufträge für das Magazin ausgeführt und ist dafür in Neuseeland und im Südpazifik umhergereist. Mit seinen Arbeiten widmet er sich so unterschiedlichen Themen wie der globalen Erwärmung auf den Tokelau-Inseln und dem Staatsbegräbnis für Sir Edmund Hillary. Er lebt mit seiner Familie im subtropischen Regenwald von Titirangi in Auckland.

Layout: Claus Schäfer
Übersetzung: Claudia Krysztofiak
Redaktion: Jan Osterkamp, Alina Schadwinkel
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  • Von Kate Evans
    Fotos von Kate Evans und Arno Gasteiger

    Bildrechte: BBC Natural History, Black Box Guild, Harley Alexander / Creative Cavalry (NZ), Kate Evans, Smithsonian, Harley Alexander / Creative Cavalry (NZ), and Black Box Guild, Zenstrata

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